Trauer, Wut und ein Gurkenglas

Im Wahlkampf in North Carolina mobilisiert der erzkonservative Senator Jesse Helms noch einmal den alten Süden. Er stolpert dabei über wütende Großmütter, die ihn einmal lebhaft unterstützten  ■ Aus Raleigh Andrea Böhm

Er liegt auf ihrem Beifahrersitz. Eingerahmt. Große Augen, goldblonde Haare, ein sonniges Lächeln in einem schmalen Gesicht, das noch nicht allzuviel Kontakt mit einem Rasierapparat gehabt haben kann. Hellblaues Hemd, dunkle Krawatte, dunkelblauer Blazer – der Traum aller Schwiegermütter.

Zu Lebzeiten hätte sich Mark Clarke nicht träumen lassen, in diesem blauen Blazer Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude in Raleigh, der Hauptstadt North Carolinas, anzulächeln. Oder als Titelkopf auf einem Flugblatt gegen den amtierenden Senator des Bundesstaates, Jesse Helms, zu erscheinen. Er selbst hatte einst Werbespots für Jesse Helms mitgestaltet. Weil er Geld brauchte und weil es für einen Sohn aus wohlhabendem, konservativem Hause in North Carolina als völlig selbstverständlich galt, Helms und seine Kreuzzüge gegen Kommunisten, Atheisten, Liberale, Homosexuelle und Aidskranke zu unterstützen. Auch und gerade dann, wenn man wie Mark Clarke verbergen mußte, schwul und HIV-positiv zu sein.

Man wählte Jesse Helms eben – ohne Diskussion

Marks Tod im März 1994 hätte denn auch im erzkonservativen Establishment von North Carolina keine weiteren Reaktionen provoziert – hätte nicht seine Mutter einen folgenreichen Brief an Jesse Helms geschrieben, den Familienfreund.

Patsy Clarke ist eine zierliche, quirlige Frau, in deren Leben außer einem flinken Mundwerk nichts auf eine zukünftige Karriere als politische Aktivistin hindeutete. Die 67jährige Großmutter hat vier Kinder großgezogen, den Haushalt geführt und ab und an bei lokalen Theaterinszenierungen mitgewirkt. Sie hat ihr Leben lang konservativ gewählt, was in North Carolina seit 1972 mit einem Namen verbunden ist: Jesse Helms. „Das war einfach so“, sagt sie. „Da wurde überhaupt nicht drüber diskutiert.“ Als ihr Mann, ein Unternehmer und überzeugter Republikaner, im März 1987 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, sprach Helms aus Washington am Telefon sein Beileid aus und schickte ihr die US-amerikanische Flagge, die er zu Harrys Ehren über das Kapitol hatte fliegen lassen. Patsy Clarke war gerührt.

Zum Tod von Mark, ihrem jüngsten Kind, kam kein Anruf aus Washington. Wohl aber ein paar Monate später die Meldung, daß Helms die Bewilligung von Bundesmitteln für Aidsprävention und Behandlung mit der Behauptung zu blockieren versuchte, die Verbreitung des Virus sei allein auf das „vorsätzliche, widerliche und abstoßende Verhalten von Homosexuellen“ zurückzuführen. Patsy Clarke war erschüttert.

„Lieber Jesse“, schrieb sie ein paar Tage später an den Senator, „ich bitte Dich nur, andere Menschen nicht mit der Behauptung abzuurteilen, sie bekämen, was sie verdienten. Niemand verdient ein solches Schicksal. Aids ist keine Schande, sondern eine Tragödie. Homosexualität ist keine Schande. Wir sogenannten normalen Menschen machen sie aufgrund unserer Ignoranz zu einer Tragödie.“ Jesse schrieb zurück. „Liebe Patsy, ich weiß, wie fürchterlich Marks Tod für Dich war. Doch nicht ich verurteile Homosexualität, sondern die Bibel. (...) Was Mark betrifft, so wünschte ich, er hätte mit seinen sexuellen Aktivitäten nicht russisches Roulette gespielt. Ich wünsche Dir wie immer alles Gute. Dein Jesse H.“ Patsy Clarke war endlich wütend.

Den Brief las sie in ihrem Gesprächskreis vor, wo sich regelmäßig Mütter trafen, deren Kinder an Aids gestorben waren. Mehrheitlich ältere Damen, die sonntags im Kirchenchor singen, Bibelstunden absolvieren und wie Patsy Clarke bis vor kurzem zu Jesses Stammwählerinnen gehörten. Nach ein paar hitzigen Debatten vollzog die Runde eine radikale Wandlung: Aus der Selbsthilfegruppe wurden die „Mothers Against Jesse In Congress“ – kurz „MAJIC“. Die ersten Spendendollars aus ihren eigenen Portemonnaies stopften sie in ein leeres Gurkenglas und finanzierten damit 300 Autoaufkleber.

Von „solchen Müttern“ hat Helms noch nie gehört

Inzwischen sind sie als „Political Action Committee“, als Wahlkampfkomitee, bei der Bundeswahlkommission angemeldet, haben 1.000 Mitglieder und einen Fernsehspot gegen Jesse Helms produziert. Diesen zu senden, haben vier von den sieben TV-Stationen in North Carolina bislang abgelehnt, weil, so munkelt man im MAJIC-Büro, das Helms-Lager interveniert habe. Patsy ist empört. Aus ihrem ersten Leben als treues Mitglied der rechten Mehrheit ist sie so etwas nicht gewöhnt. An diesem Punkt kommt ihre Freundin Eloise Vaughn zu Hilfe, deren Sohn 1990 an Aids starb. Als lebenslange Demokratin und überzeugte Liberale in North Carolina weiß die 64jährige, daß einem der Wind ziemlich scharf ins Gesicht blasen kann. Besonders dann, wenn man sich öffentlich und stolz dazu bekennt, Mutter eines schwulen Sohnes zu sein. „Da wird man plötzlich behandelt, als wäre man aus der Kirche ausgetreten“, sagt sie in ihrem langgezogenen Südstaaten-Akzent. Nun ziehen sie vereint von einer Anti-Helms-Veranstaltung zur nächsten.

Fragt man Jesse Helms nach „MAJIC“, behauptet er, noch nie „von solchen Müttern“ gehört zu haben. Kein Wunder: Politisch vermeintlich unbedarfte Mütter möchte kein Kandidat gegen sich haben. Schon gar nicht, wenn man wie Jesse Helms immer nur eine hauchdünne Mehrheit hinter sich vereinen konnte. Seine politische Heimat und Karriere fand der Sohn eines lokalen Polizeichefs und überzeugte Befürworter der Rassentrennung bei den Republikanern, nachdem der demokratische Präsident Lyndon B. Johnson 1964 für die Bürgerrechtsgesetze verantwortlich zeichnete. Helms' Behauptung, er habe „Beweise für Sexorgien der rohesten Sorte zwischen Schwarzen und Weißen“ auf Bürgerrechtsmärschen, gab einen Vorgeschmack auf jene Rhetorik, die ihn berühmt und berüchtigt machen sollte.

Am Alltagsgeschäft eines Parlamentariers war er nur dann interessiert, wenn es darum ging, staatliche Subventionen für die Tabakindustrie in seinem Bundesstaat zu sichern. Die wiederum bedankt sich alle sechs Jahre mit großzügigen Wahlkampfspenden. Doch meist ficht Jesse Helms Kämpfe gegen ausländische Mächte und inländische „Feinde der amerikanischen Kultur“, vor allem Fidel Castro. Dem Weißen Haus ist Helms ein Dorn im Auge, weil er seit 1994 als Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im Senat zahlreiche Ernennungen von Botschaftern blockiert und die pakistanischen Regierungschefin Benazir Bhutto bei einem Empfang durchgehend als „Premierministerin von Indien“ ansprach. Was diesmal weniger seiner Vorliebe für Provokationen als seiner einsetzenden Senilität zuzuschreiben war. Helms ist mittlerweile 75. Sucht man nach einem deutschen Pendant, kommt einem allerdings eher Franz Josef Strauß als Heinrich Lübke in den Sinn: Helms will Abtreibung wieder unter Strafe stellen; Enwicklungshilfe hält er für „rausgeschmissenes Geld“, das „in Rattenlöchern verschwindet“. Bundesgelder für die Förderung der Künste tragen nach seiner Ansicht zum „Abstieg der christlichen Nation in einen Abgrund des Schleims“ bei, und Homosexuelle sind „pervers“.

Das Gute an Helms: „Man weiß immer, wo er steht“

„Das ist das Gute an Jesse“, sagt Robert Appleby, Mitglied der „Christian Coalition“ und Vorsitzender der Republikaner in Durham, der Nachbarstadt von Raleigh, „man weiß immer ganz klar, wo er steht.“ Das wußte man auch in seinem letzten Wahlkampf 1990, als ihn sein demokratischer Gegner, der schwarze Exbürgermeister von Charlotte, Harvey Gantt, eine Woche vor den Wahlen zu überrunden drohte. Gantt, der die Todesstrafe ablehnt, das Abtreibungsrecht bejaht und die Förderung von Minderheiten befürwortet, hatte die Unterstützung von Schwarzen, Gewerkschaften, Frauen und der urbanen Bevölkerung in den neuen High-Tech-Zentren wie Durham und Raleigh. Helms reagierte mit einem TV- Spot, in dem ein paar weiße Hände die Ablehnung auf eine Bewerbung zerknüllen, während die Stimme aus dem Off verkündet: „Du brauchtest den Job, und du warst qualifiziert. Aber wegen der Quotenregel hat ihn ein Schwarzer bekommen. Harvey Gantt hält so etwas für fair.“ Helms gewann mit vier Prozentpunkten Vorsprung.

1996 heißt sein Gegenkandidat wieder Harvey Gantt. Diesmal versucht Helms, Homosexualität zum Thema zu machen. In einem Fernsehspot beschuldigt er Gantt, die homosexuelle Ehe zu befürworten – was dieser sehr zum Verdruß seiner Unterstützer aus Schwulen- und Lesbengruppen vehement dementiert.

Gantt hofft auf die Stimmen des „neuen Südens“ – ein Synonym, das das Wachstum urbaner Zentren ebenso umschreibt wie den Zuzug von High-Tech-Firmen und gutausgebildeten Arbeitnehmern. Über 700.000 haben sich seit 1990 in North Carolina niedergelassen. Dem steht Helms' Basis, der „alte Süden“, gegenüber: die ländlichen, weißen Wahlbezirke mit reichen Country-Clubs und bitterarmen Wohnwagensiedlungen.

Meinungsumfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Gantt und Helms hin. Patsy Clarke und Eloise Vaughn bereiten sich durchaus auf die Möglichkeit vor, daß ihr Erzfeind zum fünftenmal gewinnt. Dann wird „MAJIC“ weiterleben. Wenn Helms verliert, „schmeißen wir eine Riesenparty und begraben die ,Mütter gegen Jesse im Kongreß‘“.

Bleiben wird das Projekt, das sie mit der Aids-Hilfe in Raleigh initiiert haben: ein Haus für Aidskranke, die von ihren Familien keine Unterstützung erhalten. Dann sind neue Aufkleber fällig. Vielleicht mit Eloises Wahlspruch: „Hetero- oder homosexuell ist wie links- oder rechtshändig.“ In solchen Momenten stutzen sie manchmal – in gespielter Fassungslosigkeit, als hätten sie etwas Unerhörtes gesagt.