Christoph Seidler, wegen Mordes an Bankchef Alfred Herrhausen gesuchtes mutmaßliches RAF-Mitglied, will sich stellen. Um zu beweisen, daß er's nicht gewesen sein kann. Weil er zu jener Zeit unter palästinensischen Freiheitskämpfern lebte. Wenn es stimmt, was Zeugen im Libanon bestätigt haben, kann er tatsächlich kaum der Topterrorist gewesen sein, zu dem ihn Fahnder hochstilisierten. Von Wolfgang Gast

Im Dunkeln sieht man Täter überall

Der Deutsche mit dem Namen „Ali“ ist der Familie Adib im libanesischen Dorf Bchamoun in guter Erinnerung. Vater und Sohn, die hier einen Supermarkt betreiben, erkennen den Abgebildeten auf dem Foto sofort als einen ihrer Kunden. Ja, sagen sie dem Ende Juni angereisten Besucher, so gegen Anfang 1988 sei er erstmals aufgetaucht. Der auf dem Foto wurde ein regelmäßiger Kunde, bis in das Jahr 1991 hinein. Immer kam er allein, in manchen Wochen täglich, in anderen ein- bis zweimal. Ein anderer im Laden läßt sich das Foto zeigen, und auch er kann sich an den Mann erinnern: Ja, der war bei den Palästinensern. Bei einer Gruppe, die zwei Kilometer entfernt in seinem Wohnort Aitat eine Stellung bezogen hatte, damals, an der Front im libanesischen Bürgerkrieg.

Für „Ali“ sind die Aussagen der Adibs von größter Wichtigkeit. Ali, das ist der Name, unter dem der untergetauchte Christoph Seidler Anfang 1987 als Mitglied bei der Palästinensischen Befreiungsbewegung PFLP im Libanon anheuerte. Seit Jahren wird international nach dem 38jährigen wegen Mitgliedschaft in der Roten Armee Fraktion (RAF) gefahndet. Und seit Ende Januar 1992 wird er darüber hinaus konkret beschuldigt, an dem mörderischen Anschlag auf den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, am 30. November 1989 beteiligt gewesen zu sein.

Die Karlsruher Bundesanwaltschaft hält Christoph Seidler für einen der Köpfe der „dritten Generation“ der RAF, die nach 1984 sechs Attentate auf Wirtschaftskapitäne und Politiker verübte. Neun Menschen fielen diesen Anschlägen zum Opfer. Doch wenn stimmt, was nicht nur die Adibs im Libanon bekunden, dann kann Seidler kaum der Topterrorist gewesen sein, zu dem ihn Fahnder und Medien hochstilisierten.

Eine ganze Reihe von Zeugen bestätigt Seidlers Aussagen, Mitglied der PFLP gewesen zu sein und nach seinem Abtauchen in Deutschland als eher unpolitischer Zeitgenosse in zwei Marburger Wohngemeinschaften gelebt zu haben.

Die Karlsruher Ankläger stehen wie die Ermittler des Bundeskriminalamtes vor ihrer wohl größten Schlappe seit den Anfängen der Fahndung nach der RAF.

Mit Christoph Seidler will sich einer stellen, der das dürftige Wissen der Strafverfolgungsbehörden über die Linksguerilla vollends als Wunschdenken entlarvt. Und besonders peinlich für die RAF-Verfolger: Seidler ist ganz offensichtlich kein Einzelfall. Auch andere aus dem Umfeld der RAF tauchten in der ersten Hälfte der achtziger Jahre ab, ohne jemals bei den Aktivisten der RAF anzulanden (siehe Text unten).

Christoph Seidler lebt im Libanon bis mindestens Juli 1992. Der Illegalität müde, sucht er dann den Kontakt zu alten Freunden und seiner Familie. Zu diesem Zeitpunkt steht sein Entschluß fest, sich gegen das Zerrbild zu wehren, das seine Verfolger seit Jahren von ihm zeichnen. Im August vergangenen Jahres arrangiert er ein erstes klandestines Treffen: Mehr als zehn Jahre nach seinem Gang in den Untergrund trifft er seine Eltern in Paris.

In der Folge ist es ausgerechnet der Verfassungsschutz, der den Weg Seidlers zurück in die Gesellschaft ebnen will. „Hans Benz“, der im Kölner Bundesamt das sogenannte Aussteigerprogramm betreut, übernimmt die Aufgabe, Seidlers Angaben zu überprüfen.

Benz spürt nicht nur die früheren Marburger Mitbewohner Seidlers auf, die den Gesuchten als „Markus“ kannten und von dessen Abtauchen und seinen früheren Verbindungen zur antiimperialistischen Szene des Rhein-Main-Gebiets nichts ahnten.

Benz jettet auch in den Libanon. Er treibt, von Seidler mit entsprechenden Hinweisen gefüttert, frühere Bekannte auf. Die bestätigen Seidlers Angaben. In Bchamoun findet Benz im Juni auch den von Seidler beschriebenen Lebensmittelmarkt der Familie Adib. 32 Zahnarzttermine zwischen Mitte 1988 und Juli 1992 des deutschen PFLP-Genossen in zwei Zahnkliniken im Libanon lassen sich bestätigen.

Doch ein konkretes Alibi für den 30. November 1989, den Tag des Herrhausen-Attentates, gibt es – bisher – nicht. Aber der Termin läßt sich einkreisen. Ein weiterer Deutscher, der im Sold der PFLP stand, erinnert sich: Der angebliche Herrhausen-Mörder deckte sich im November 89 in seiner Verwaltungsstation mit Farben ein. Seidler, ein talentierter Zeichner, sollte in Aitat das „Märtyrerbild“ eines palästinensischen Fischers anfertigen, der kurz zuvor mit seinem Kutter und einer gewaltigen Sprengladung an Bord versucht hatte, ein israelisches Patrouillenboot zu versenken. Der Selbstmordattentäter starb nach Zeitungsberichten am 30. oder 31. Oktober 1989. 40 Tage nach dem Todestag finden im Libanon traditionell die Trauerfeierlichkeiten ihren Höhepunkt, also Anfang Dezember. Seidler hätte in Hanau Alfred Herrhausen in die Luft sprengen und sich praktisch gleichzeitig um die Anfertigung des Märtyrerbildes in Aitat kümmern müssen.

Parallel zur Überprüfung des Alibis vor Ort verhandelt der Anwalt Seidlers, Michael Moos, mit der Bundesanwaltschaft über die Relegalisierung seines Mandanten. Anfangs scheint es, als sei die Behörde bereit, einer Aufhebung des Haftbefehls zuzustimmen. Alle Hinweise, die auf eine Tatbeteiligung Seidlers beim Herrhausen-Anschlag hinweisen, stammen von Siegfried („Siggi“) Nonne.

Der ist alles andere als ein idealer Kronzeuge. Erst hat er sich beim hessischen Verfassungsschutz aus eigenem Antrieb als einer offenbart, der im Beisein von Klump und Seidler an der Vorbereitung des Herrhausen-Attentates beteiligt gewesen sei. Dann widerrief er dies in einem Fernsehbeitrag der ARD mit der Begründung, vom Verfassungsschutz zu einer solchen Aussage genötigt worden zu sein. Doch auch das dementierte er später. Diesmal sollen ihn die Fernsehmacher unter Druck gesetzt haben. Psychisch und physisch labil, wird Nonne heute in einer therapeutischen Wohngemeinschaft betreut.

Noch im Oktober glaubt Verfassungsschützer Benz, seine Recherchen im Libanon dienten nur noch der „Abrundung“ des Vorgangs. Am 21. Oktober trägt der Kölner Beamte den Bundesanwälten die Ergebnisse seines letzten Libanontrips mit. Doch in Karlsruhe ist offenbar ein Stimmungswechsel eingetreten. Den Zeugen vor Ort komme „kein hoher Beweiswert“ zu, heißt es nun. Weil kein „Gegenbeweis“ für den Tattag erbracht sei, werde die Bundesanwaltschaft einer Aufhebung des Haftbefehls nicht zustimmen. An der Glaubwürdigkeit des Zeugen Nonne gebe es keine Zweifel.

Am morgigen Dienstag wird in Karlsruhe eine weitere Zeugin aussagen, die zur fraglichen Zeit im Libanon unter dem Namen „Chadia“ lebte. Sie wird den Bundesanwälten erklären, sich an ein Treffen mit Seidler im Libanon am 5. Dezember 1989 erinnern zu können. Am Tag davor hatte sie einen Welpen geschenkt bekommen und mit „Ali“ über dessen wenig orginellen Namen „Micky“ geplauscht.

Jeder, versichert „Chadia“, der seinen Stützpunkt länger als 24 Stunden verließ, sei von der PFLP- Verwaltung registriert worden. Zuständig dafür sei sie selbst gewesen. Ihre Aussage: „Das war bei Ali eindeutig nicht der Fall.“