Der Kiez ist nicht mehr der Kiez

Die Mulackstraße in Mitte hat sich nach der Sanierung verändert. Viele sind neu gekommen. Geblieben sind Menschen wie Ursula Wünsch, Erinnerungen an die alte Zeit und ein paar Visionen  ■ Von Jens Rübsam

Was ist übriggeblieben vom Kiez? Vielleicht das Straßenschild mit dem Hinweis „Gehwegschäden“. Vielleicht auch das Haus mit der Nummer 19. Eines mit vergammelter Fassade, verklemmter Tür und verhunzten Fenstern. Ganz sicher die lange Wand mit verspielter Malerei weiter hinten in dieser Straße und der kleine Wald mit den verträumten Laubbäumen und den versteckten Skulpturen schräg gegenüber. Übriggeblieben sind Menschen wie Ursula Wünsch.

Das Haus mit der Nummer 11, „ihr“ Haus, ist zwar nicht mehr das alte, ist nunmehr gelbsaniert, das Schaufenster mit dem lustigen Schriftzug „Wünsch' Dir was“ wird jetzt von einem schicken Rahmen getragen. Wie so vieles in dieser Mulackstraße. Auf Schickimicki gemacht sind der Weinladen „Bordo“, das In-Lokal „Salomons Schwester“, die Häuser mit den Nummern 3 und 7 werden es noch.

Hätte sie nicht die Katzen zu versorgen, wäre sie nicht die Mutter für viele Mulackkinder und der Halt für die Alten im Kiez, Ursula Wünsch wäre schon längst nicht mehr hier. „Der Kiez ist nicht mehr der Kiez.“ Wie sonst ist zu erklären, daß Nachbarn nicht mehr grüßen, nicht mehr miteinander reden, daß Jugendliche Autos demolieren, daß erst kürzlich, und das schon zum zweiten Mal, bei ihr eingebrochen wurde, daß die alte Frau K. eine Woche tot in ihrer Wohnung liegt und die Leute es erst dann merken, wenn es anfängt zu stinken.

Der Kiez: 1971 ist Ursula Wünsch in die Mulackstraße 11 gezogen. Vier Jahre später zog sie wieder aus, weil sie eine 78-Quadratmeter-Wohnung im Weißenseer Weg bekam mit warmem Wasser aus der Leitung.

Was blieb im Scheunenviertel, war ihre Spielzeugwerkstatt. Heute ein Zuhause für die Mulackkinder, für die Alten, die noch im Kiez wohnen, für 25 Katzen und für die Tauben, die etwas vom Katzenfutter abhaben wollen. Manchmal, da wird Ursula Wünsch die „gute Seele im Kiez“ genannt. Vor kurzem ist sie 50 geworden. Das Haar ist leicht angegraut, das Gesicht nicht mehr ganz so frisch. Ihre Augen aber funkeln noch immer, und ihre Stimme versprüht Weitermachen. Ob nun als Spielzeuggestalterin, als ABM-Frau, als Kiez- Kämpferin.

Ihre Küchenuhr läuft nach Sommerzeit, an der Wand hängt ein großer Setzkasten mit tausend Erinnerungen drin. In ihren drei Räumen herrscht ein gesundes Chaos – so wie eh und je. Max und Mohrchen, die beiden schwarzen Katzen, hüpfen auf die Tische, die neue, die erst gestern bei ihr ausgesetzt wurde, lümmelt im Sessel. Ursula Wünsch stört das alles nicht. Soll sie sich auch noch darum sorgen?

Der Obdachlose und der Weinhändler

Zu erzählen gibt es anderes. Von Lotti beispielsweise, von dieser alten Frau mit ihren zwölf Katzen, die nicht wußte, wie sie sich selbst und die Katzen versorgen sollte. Oft hat sie vor dem Haus mit der Nummer 11 gewartet, so lange, bis Ursula Wünsch endlich kam und ihr etwas Geld gab.

Andere sind auch gekommen. Der Obdachlose, der erzählte, man hätte ihn vorm Geldautomaten ausgeraubt. Sie hat ihm Geld gegeben, obwohl sie seiner Geschichte nicht traute. „Das ist ja das Verrückte. Die Leute können mir sonstwas erzählen, und ich weiß, daß es nicht stimmt. Aber ich gebe trotzdem.“ Irgendwann hat sie die Regel eingeführt: Borgen ja, aber nicht mehr als 20 Mark. „Daß ich selbst mal kein Geld haben könnte, das kann sich niemand vorstellen.“

Der Kiez und der Weinladen gegenüber im besonderen. Sie selbst hat den Weinhändler in die Mulackstraße geholt, weil sie gedacht hat, es wäre schön, abends nach der Arbeit einen Schoppen trinken zu können. Daß sie dann nicht mal einen umsonst gekriegt hat, das hat sie nur ein bißchen geärgert. Viel mehr, daß der Mann es nicht für nötig hielt, extra wegen ihr die Flasche zu öffnen. Sie wollte nur ein Glas, nur eines von diesem Wein. „Ich erwarte ja keinen Dank.“

Ihr Kiez: Manchmal, da nimmt Ursula Wünsch das Wörtchen „ihr“ noch in den Mund. Weil sie sich Gedanken macht, wie man ihn trotz allem erhalten könnte. Schon oft hat sie mit dem Bürgermeister und der Wohnungsbaugesellschaft Mitte geredet. Ihr gehören die Häuser, und sie wäre es, die Ideen umsetzen könnte. „Wir haben über ein Handelskonzept gesprochen.“ Eine Kaufhalle für Arme müßte in den Kiez, ein Aldi, weil die kleinen Läden zu teuer seien, weil die Schlagsahne hier 2,99 statt 1,49 Mark koste. „Wer von den alten Leuten kann sich denn erlauben, ewig weit zu laufen?“

Ein Lokal für Arme müßte her. Weil es wichtig sei, den Armen die Möglichkeit der Essenwahl zu geben. „Die wollen nicht nur etwas vorgesetzt bekommen, die wollen bestimmen, was sie essen.“ Einen Koch, der das machen könnte, kenne sie, „auch ein Obdachloser“. Die Einrichtung würde bestimmt von den großen Hotels zur Verfügung gestellt werden. Wenn man sie nur bitten würde. Auch müsse Kultur in die Mulack. Mit Charlottchen von Mahlsdorf hat sie gesprochen, ob sie ihr Museum nicht hierher verlegen wolle. Platz wäre ja da. Noch sind nicht alle Häuser totsaniert.

Nichts gegen Reiche, aber nicht zu viele

Wie überhaupt genug Platz da wäre für alles – für das Lokal für Arme, für den Aldi, für einen neuen Weinhändler, den sie jetzt ins Scheunenviertel locken will, um einen Kontrapunkt zu dem Noblen gegenüber zu setzen. Überhaupt: Sie hat nichts gegen Reiche. Auch für diese Leute müsse in der Mulackstraße Platz sein. „Ja, Arme und Reiche müssen hier zusammenwohnen.“ Daß sie mit „den Puppen, den anonymen Menschen“ nichts anfangen kann, sei eine andere Frage. Mittlerweile werden es nur immer mehr. Zu viele.

Eine Mulackstraße ohne Ursula Wünsch ist kaum vorstellbar. Ihr kleiner Laden würde fehlen, vor allem den Kindern, die jeden Tag in die Spielzeugwerkstatt zur „Katzenmutti“ kommen und die genau wissen, in welcher Dose Kekse zu finden sind, genauso wie die Katzen wissen, wo der Futternapf steht. Nicht zuletzt sind da die vielen sozialen Geschichten.