Lebensballast an der Bühne abzugeben

■ Jugend trainiert für das Greisenalter: Pearl Jam in Berlins Deutschlandhalle

Frieden ist eingekehrt ins Land der amerikanischen Rocker. Entweder spielen sie, wie etwa Seven Mary Three, unter Ausschluß der Öffentlichkeit oder in den ganz großen Hallen. Pearl Jam gehören zur letzteren Kategorie. Nach ihrem Debüt „Ten“, dem Durchstarten von Grunge und Alternative Rock und dem Tod von Kurt Cobain, galt ihr Sänger Eddie Vedder als einer der suizidgefährdetsten Menschen im Rock-'n'-Roll-Zirkus. Doch Eddie Vedder lebt; er hat überlebt und weiß mittlerweile gut mit seiner Rolle als Integrationsfigur der Generation X umzugehen.

In der ausverkauften Deutschlandhalle waren sie dann auch alle da, die man gemeinhin als Slacker und Grunger subsummiert, im gewohnt nachlässigen Outfit, so ungestylt wie möglich. Als Vorband dürfen zuerst die Fastbacks ran. Eine Band aus Seattle, für die sich weder zur Hochzeit von SubPop noch während des Neo-Punkrevivals jemand interessierte. Doch Vedder ist Homeboy geblieben, denkt an seine Freunde, und so spielen die Fastbacks mit ihrem schnöden, klebrigen Punkrock die erwartungsfrohe Crowd warm. Wenigstens die Frontfrau verströmt ein wenig Glamour in ihrem Suzi-Quatro-Outfit, und als sie zum Ende „Set Me Free“ von The Sweet covern, ist man eigentlich auch ganz zufrieden.

Die weitere Wartezeit wird stilecht mit Songs von Mudhoney aus der Hallenanlage überbrückt, und dann geht es los. Man merkt gleich zu Beginn: Pearl Jam sind Superstars. Hier gibt es kein schnödes Grunge-Konzert, nein, hier wird Rock zelebriert, seine klassische Variante auf die Bretter gehoben. Sparsam, aber effektvoll wird die Bühne ausgeleuchtet, und Pearl Jam rocken zwei Stunden lang das Haus: Balladen, straighte Songs und der unvermeidliche Schmock. Ganz Kümmerer und Sensibelchen, sorgt sich Vedder um das Wohlergehen der Leute in den ersten Reihen und mahnt Rücksicht und Hilfe am Nächsten an.

Erstaunlich, daß die Songs von Pearl Jams Debüt immer noch am meisten die Gen-X-Seele hochkochen lassen. „Even Flow“, „Jeremy“ und vor allem das unsägliche „Alive“. Erst besingt Vedder die Unsterblichkeit mit den Zeilen „cannot stay long, some die just to live“ – ein Schelm, der hier an Cobain denkt –, und dann dürfen alle mit Vedder sein „I'm still alive“ grölen. Da stimmt dann die Chemie, das Publikum wird angestrahlt, und endlich kann die jugendliche Meute ihren gesamten Lebensballast abwerfen und ihr „trotzdem“ rausschreien. Jugend, spinnst du, denkt man bei dieser Art greisenhaftem Bekenntnis von kaum 20jährigen. Spätestens hier möchte man sich auf seine noch so zweifelhafte Individualität berufen, spätestens hier taucht der erste Fluchtgedanke auf.

Böse Erinnerungen werden wach an das Pearl-Jam-Konzert vor fünf Jahren im Berliner Loft. Damals ließ sich Vedder noch auf Händen durchs Publikum bis zum Mischpult und zurück tragen, und man wußte, daß die große, gemeinschaftstiftende Stunde von Rock geschlagen hatte. So was geht natürlich nicht mehr, zuviel andere Last liegt auf Vedders schmächtigen Schultern, zu scheu ist er geworden. Die neueren Songs wollen nicht mehr so greifen. Zuletzt spricht Vedder noch ein Lob auf das Berliner Jugendradio, das das Konzert in die Welt sendet. Keine Spur von Zorn: Frieden und Freude sind angekommen. Auch die Fastbacks dürfen noch mal auf die Bühne, und als Pearl Jam die letzte Zugabe bei Hallenbeleuchtung spielen, ist Vedder ganz glücklicher Mensch, der später auch den Hörern von Fritz noch ins Lebensbuch schreibt, daß Selbstmord nun wirklich keine Lösung sei. Gerrit Bartels