■ Der Standort Schweiz ist trotz Auslagerung nicht ganz im Abseits
: Gesundschrumpfen

Calida, der Schweizer Textil-Marktführer, ist das Musterbeispiel für den Tod der hiesigen Bekleidungsindustrie, der gleich um die Ecke lauert. 1990 knapp dem Kollaps entgangen, nimmt die Gruppe ab 1992 mittels Personalkürzungen eine drastische Umstrukturierung der Produktionsstätten in der Schweiz in Angriff. Für den Betrieb in La Chaux-de-Fonds bedeutet dies das Aus; jener in Chiasso, wo fast alle Beschäftigten italienische Grenzgängerinnen sind, wird vom damaligen Filialleiter übernommen. Für das Jahr 1998 sind bloß noch 20 Prozent der Produktion in der Schweiz geplant, 50 Prozent gehen nach Portugal und Ungarn. Und die restlichen 30 Prozent sind das Resultat „passiver Lohnveredelung“, also des Re-Imports und der Vermarktung im Ausland teilgefertigter Waren.

Der Prozeß der Auslagerung wird sich auch im nächsten Jahrzehnt weiter ausdehnen. Das zeigt das Beispiel der Calida- Tochterfirma in Ungarn, welche in der Ukraine Fuß fassen will. Gleichzeitig werden Begriffe wie Globalisierung und weltweiter Wettbewerb in hiesigen Diskussionen aufgebauscht, als wären sie Gottes Strafe, um einer Auseinandersetzung mit den veränderten Verhältnissen auszuweichen. Bei genauem Hinsehen beißt sich der Prozeß der Globalisierung in den Schwanz. Denn die größte Produktivität wird mit qualifiziertem, motiviertem und korrekt bezahltem Personal erzielt. Das bedingt aber auch in Billiglohnländern langfristig ein Anheben des Lohnniveaus. Man darf nicht vergessen, daß die Kleider auf dem Schweizer Markt trotz der Globalisierung immer noch zu 79 Prozent aus Europa und zu 76 Prozent aus der EU kommen. Ein kleiner Rest sind Billiggüter aus Asien, Afrika und Lateinamerika.

Die Schweiz und Europa überhaupt müssen sich auf hochqualitative Produktionen konzentrieren, um das notwendige Know-how zu erhalten. Weder wilde Lohnderegulierung im Inland noch die Flucht ins billige Ausland sind angebracht. Gefördert werden müssen die Innovationskraft und die Ausbildung. Die Verfügbarkeit von Risikokapital. Die Vernetzung der kleinen und mittleren Unternehmen, die weltweit den Ton angeben, wenn es darum geht, Wissen in Produktion umzuwandeln.

Nein, der Standort Schweiz ist noch nicht vollkommen im Abseits. Es gibt ein technologisches Potential, das bisher noch nicht ausgeschöpft wurde. Und die größere Flexibilität der Arbeitnehmer, welche durch die Umstellung zum „just in time“ verlangt wird, verdient eine Auseinandersetzung über die Umverteilung der Arbeit und über einen Sozialpakt, der die neuen Qualitäten der Arbeit anerkennt. Sergio Agustoni

Der Autor ist Soziologe und lebt in Zürich. Der Artikel erschien zuerst im Magazin Nr. 38, der Wochenendausgabe des „Tagesanzeigers“ und der „Berner Zeitung“.