Helmut Kohl ist für viele der bessere Demirel

■ Der Besuch des türkischen Staatspräsidenten berührt türkische Jugendliche kaum

Während der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel gestern nach Bonn flog, gingen viele türkische Jugendliche wieder ihrem ganz normalen Schulalltag nach. Demirel besuchte Berlin, sprach mit dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen und Bundespräsident Roman Herzog, aber kaum einen jungen Türken in der Stadt interessierte das Ereignis. In der Kreuzberger Ferdinand Freiligrath Oberschule, einer Hauptschule mit einem Ausländeranteil von etwa siebzig Prozent, vergnügten sich die Jugendlichen lieber im Schülercafé. Auf Demirel angesprochen, reagieren die meisten erstaunt. „Ich wußte gar nicht, daß er hier war“, sagte Erhan Burak.

Der 15jährige bringt es auf den Punkt. Was er nicht wußte, wußten viele türkische Jugendliche nicht oder wollten es nicht wissen. Das Desinteresse war groß.

Warum sollte man sich auch für die türkische Politik interessieren, fragt die 15jährige Nazli Kocazi. Sie ist in Berlin geboren, und die Türkei ist für sie weit weg. „Seit zehn Jahren bin ich nicht mehr dort gewesen“, sagt sie mit weit aufgerissenen Augen. Sie will auch nicht mehr zurück. „In Deutschland kann ich besser leben“, fügt sie hinzu.

In der Pause füllt sich das Schülercafé. Dann kommen hier SchülerInnen aus verschiedenen Ländern zusammen, spielen Billard, fläzen sich in der gemütlichen Sitzecke oder schlürfen an der Bar eine Limonade. Der Raum ist voll, der Lärmpegel hoch. In der Ecke sitzt ein junger Türke. Völlig unbehelligt blättert er in einem Nachrichtenmagazin. Was die anderen reden, scheint ihn nicht zu interessieren. Als er hört, daß über Demirel gesprochen wird, mischt er sich ein, will aber anonym bleiben. Ein schlechter Mensch sei der Staatspräsident, ruft der 17jährige dazwischen. „Der unterdrückt die Menschen in der Türkei. Es ist eine echte Schweinerei“, fährt er wild gestikulierend fort, „daß die Deutschen einen Mörder einladen.“

Seine Mitschüler schütteln den Kopf, können die Aufregung nicht verstehen. „Ich hoffe“, sagt Adnan Gürsac, „daß unser Präsident seine Sache gut macht. Aber ich lebe hier in Deutschland, da ist mir Helmut Kohl eben wichtiger.“ Was Adnan ausspricht, denken die meisten seiner türkischen Freunde. Die türkische Politik kommt nur am Rande vor, weil sie das Leben der jungen Türken in Deutschland kaum berührt. Und so kommt es, daß Helmut Kohl für viele der bessere Demirel ist.

Dietmar Neuerer