Es gibt keine Musik und kein Lächeln mehr

Gut einen Monat nach dem Einmarsch der Taliban herrscht in der afghanischen Hauptstadt Ordnung und Friedhofsruhe. Die brachialen Regeln der Islamisten werden zwangsweise befolgt. Doch neue Eroberer machen sich bereit  ■ Aus Kabul Ahmad Taheri

Ungeduldig warten die Journalisten auf Mullah Amirkhan Mottaghi, den Minister für Information und Kultur der Taliban. Seit Mullah Mohammad Rabbani, der Vorsitzende des sechsköpfigen Taliban-Rats in Kabul, von der Bildfläche verschwunden ist, gilt Mullah Mottaghi als der stärkste Mann in der afghanischen Hauptstadt. Mit einer halben Stunde Verspätung stolziert der hochgewachsene Paschtune durch den Konferenzsaal des Außenministeriums, der schon bessere Zeiten gesehen hat. Mottaghi, auf deutsch „der Gottfürchtige“, trägt einen kunstvoll geschlungenen, goldbraunen Turban, weiße Gewänder und Sandalen ohne Socken. Der grünäugige Mann mit dem langen Bart nimmt in einem Rokoko-Sessel Platz, lehnt sich zurück und lächelt.

Bilder des alten Orients werden wach: der siegreiche Stammeshäuptling auf dem Thron eines geschlagenen Sultans. Sicher hat der 27jährige Paschtune, der im pakistanischen Queta und Karatschi in der Heiligen Schrift unterwiesen wurde, vor einigen Jahren in seiner Medressen-Stube nicht im Traum daran gedacht, daß eines Tages eine Schar von weitangereisten Männern und Frauen aus den Ländern der Christenheit zu seinen Füßen hocken und jedes Wort aufschreiben würden, das er herunterleiert. Was Mullah Mottaghi zu sagen hat, ist sattsam bekannt. Die ehrwürdigen Taliban seien von Gott auserwählt, um Afghanistan von Räubern und Mördern zu befreien. „Nein“, nicht Pakistan, nicht die Saudis, nicht die US- Amerikaner, sondern der allmächtige Allah habe ihnen die Kraft verliehen, das Vaterland zu befrieden und im Sündenpfuhl Kabul den Baum der Scharia, des islamischen Rechts, zu pflanzen.

Die neuen Herren haben den Kabulis per Dekret „islamische Kleidung“ befohlen und den Männern 40 Tage Zeit gegeben, dem „Vorbild des Propheten zu folgen“ und sich den Bart wachsen zu lassen. Wer nach Ablauf dieser Frist mit rasiertem Kinn erwischt wird, muß mit Peitschenhieben oder Geldstrafen rechnen.

„Willkommen in Kabul“, begrüßt mich ein weißbärtiger Mann in der Pressestelle des Außenministeriums. Er trägt die einheimische Tracht, ein langes, braunes Hemd und Pluderhosen, einen mächtigen Turban und einen gestreiften Schal über den Schultern. Der Mann, den ich auf den ersten Blick für einen herausgeputzten Taliban-Führer halte, kommt mir irgendwie bekannt wor. Plötzlich geht mir ein Licht auf: Er ist der „Italiener“. So nennen seine Kollegen den Paschtunen Aminzoi, der einige Jahre in Rom studiert hat. Seit den siebziger Jahren arbeitet der ältere Mann im Außenministerium. Er diente König Hazer Schah, dessen Vetter Mohammad Dawud, dann den Kommunisten, später den Mudschaheddin. Jetzt steht er den Taliban zu Diensten – ein Musterbeispiel eines afghanischen Wendehalses. Noch vor zwei Monaten trug Aminzoi einen grauen Zweireiher mit der buntesten Krawatte in ganz Afghanistan. „Willst du nicht auffallen“, flüstert er mir ein persisches Sprichwort zu, „so nimm die Farbe der Masse an.“

Auch der Manager des German Club, des ehemaligen Gästehauses der deutschen Botschaft, das seit einigen Jahren westlichen Besuchern als Unterkunft dient, hat sich ein islamisches Aussehen zugelegt. Auch er lief noch vor kurzem mit Anzug und Schlips herum. Der Absolvent der Kabuler Universität hat, wie viele andere Paschtunen, nur Lob für die Taliban übrig. Sie hätten für Ruhe und Ordnung in Afghanistan gesorgt. Die Schomali seien aus Kabul verschwunden. Die Schomali, die „Nordler“, wie man die Bevölkerung aus den Bergen nördlich der Hauptstadt nennt, gelten in Kabul als zumeist bekiffte Gangster.

Die Sympathie des Managers für seine Stammesbrüder aus dem Süden hat noch andere Gründe. Seit dem Einzug der Taliban in die afghanische Hauptstadt blüht sein Geschäft. Die von hohen Mauern umgebene Herberge ist zur Zeit Nabel der Welt. Dutzende Korrespondenten, Fotografen und Fernsehleute aus aller Herren Länder bevölkern den German Club. Wer hier ein Zimmer bekommt, muß sich glücklich schätzen. Ein US- amerikanischer Pulitzer-Preisträger schläft zwischen seinem Laptop und einem rundlichen japanischen Fotografen auf einem Billardtisch, der in einer kalten Halle steht.

„Die Journalisten“, sagt Abdullah, der Koch des Gästehauses, „sind ein komisches Volk.“ Sie kämen von weither, gäben Tausende von Dollars aus, nur um zu sehen, wie Afghanen Afghanen umbringen. „Und wenn am Tag einmal nichts passiert, dann sind sie alle sauer, gehen in den UN-Club und saufen sich voll, und ich bleibe auf meinen Schnitzeln sitzen.“ Abdullahs Spezialität sind Wiener Schnitzel – aus Rindfleisch.

Den Journalisten gegenüber sind die Taliban von bemühter Freundlichkeit. Man braucht nur die Pressekarten zu zücken, und schon hat man überall freie Fahrt. Manchmal reicht auch Führerschein oder Kreditkarte. Wer weiß schon in Kabul, wie ein kanadischer, japanischer oder tschechischer Presseausweis aussieht? Nur wer versucht, mit Frauen zu sprechen, sie zu fotografieren oder zu filmen, spürt die Härte der Scharia. Kürzlich wurden zwei argentinische Fernsehleute, die in einem Haus Frauen gefilmt hatten, von herbeigerufenen Taliban geschlagen und für 24 Stunden im Gefängnis festgehalten. Ein BBC-Team, das sich desselben Frevels schuldig gemacht hatte, kam mit einem blauen Auge davon. Ein zorniger junger Koranschüler zerschlug ihre teure Kamera.

Unterdessen haben die neuen Herrscher angeordnet, daß die „Tabeghe-e Neswan“, die „weibliche Klasse“, nur im Notfall und in Begleitung das Haus verlassen darf. „Das dient dem Schutz und dem Wohle der Frauen, weil wir uns im Krieg befinden“, begründet Mullah Amirkhan Mottaghi, der Kultur- und Informationsminister, die Anordnung. Doch die Kabuler Frauen sind aus dem Straßenbild nicht verschwunden. In Gruppen oder allein laufen sie durch den Basar. Sie sind allerdings in den Schadori gehüllt, das sackartige Gewand, das sie aussehen läßt wie englische Schloßgespenster.

Kabul sei eine Millionenstadt, sagt Mohammad Harawi, ein afghanischer Journalist. Die Taliban seien noch nicht fest im Sattel, um die Stadt ganz in den Griff zu bekommen. „Aber wenn sie den Krieg gewinnen, dann wird es in Kabul zugehen wie in Gandahar.“

In Gandahar, der „Hauptstadt der Bewegung“, wo Mohammad Omar, der Führer der Taliban, residiert, zählte ich im Sommer an einem Tag gerade nur sieben Frauen auf der Straße. Die Händler im Basar bedienten sie vor der Ladentür. In geschlossenen Räumen mit fremden Männern alleine zu sein, sei von der Scharia verboten, meinen die Koranschüler. Bei Handicap-International, einer Hilfsorganisation, die sich um die Kriegsverletzten kümmert, erfuhr ich, daß Frauen verhaftet und geschlagen werden, wenn sie zur Werkstatt kommen, um sich eine Prothese machen zu lassen. Sie seien mit Männerhänden in Berührung gekommen, warf man ihnen vor.

Auf dem Eidgah, dem Fest- und Gebetsplatz von Gandahar, haben die Taliban Anfang Juli eine 28jährige Frau und einen 32jährigen Mann vor den Augen von 6.000 Menschen gesteinigt. Die Anklage lautete auf unehelichen Geschlechtsverkehr. Man zeigte mir die beiden Erdlöcher, worin die Verurteilten bis zur Brust eingegraben wurden, bevor man sie totschlug. Augenzeugen berichteten, daß die Talibanführer die Zuschauer aufgefordert hatten, zum Stein zu greifen. Aber niemand rührte sich. Da kam eine Schar von Taliban. „Sie nahmen die Steine, spuckten drauf und schleuderten sie auf die beiden.“ Der Mann war nach sieben, die Frau nach elf Steinen tot. Die Kinder der Frau standen dabei und schrien und weinten. „Die Afghanen“, sagt Abdulrahim, der in Deutschland Betriebswirtschaft studiert hat, „bringen keine Frauen um. Solche Verbrechen haben die Taliban von den Saudis und Pakistanis gelernt.“

In Pakistan nahm die Bewegung der Taliban ihren Anfang. Sie sind die Kinder der paschtunischen Flüchtlinge aus dem Süden Afghanistans. Sie wurden in den Koranschulen der pakistanischen Städte Queta, Peschawar oder Karatschi vom Dschama'-at-e Ulama-e Islam, einem pakistanischen Theologenverein, der von dem Paschtunen Maulawi Fazlur Rahman geführt wird, in der sunnitischen Rechtgläubigkeit unterwiesen. Der pakistanische Geheimdienst sorgte für die militärische Schulung. Im Herbst 1994 hißten die Koranschüler die weiße Fahne des Friedens und marschierten, in der linken Hand die Kalaschnikow, in der rechten den Koran, in der afghanischen Heimat ein. Mit Hilfe der Taliban, hieß es schon damals, wollte Islamabad die Transportwege zwischen Indus und Amu Darja, dem Grenzfluß zu den mittelasiatischen GUS-Republiken, sichern.

Die Bevölkerung von Gandahar empfing die Taliban mit Jubel. Ihnen war der Ruf als „Heerscharen des Friedens“ vorausgeeilt. Mit barbarischen Strafen sorgten sie in der von Mudschaheddingruppen geplünderten Stadt für Ruhe und Ordnung. Der Gesundheitsminister, Mullah Dr. Balutsch, hackte eigenhändig einem Dutzend Dieben und Räubern Hände und Füße ab, darunter dem afghanischen Fußballidol Mohammad Dawud. Der 16jährige hatte in einem Laden, in dem er arbeitete, hunderttausend Afghani, das ist weniger als eine Mark, gestohlen. Inzwischen setzt Balutsch seine Arbeit im eroberten Dschalalabad fort.

Mit den Taliban hatte eine frische, ethnisch homogene Gruppe, von Sieges- und Heilsgewißheit beseelt, die Arena des afghanischen Bürgerkriegs betreten. Den islamischen Law-and-order-Männern gelang in kurzer Zeit der Siegeszug durch das afghanische Bergland. Die Mudschaheddin paschtunischer Herkunft schlossen sich scharenweise der neuen Gruppe an. Auch die einstige kommunistische Soldateska, denen die Mudschaheddinherrschaft in Kabul ein Dorn im Auge war, stellten sich den ultraorthodoxen Koranschülern zur Verfügung und bedienten ihre Bomber und Panzer. „Sie sind Engel in Menschengestalt, von Gott geschickt, um Afghanistan zu retten“, priesen die Prediger in den Moscheen beiderseits der Grenze die weißgewandeten Zeloten. Die Begeisterung für die „Heerscharen der Scharia“ galt freilich weniger der Frömmigkeit der Taliban als ihrer ethnischen Herkunft. Man sah in ihnen die Vortruppe des Paschtunentums auf dem Marsch in die afghanische Hauptstadt, wo die persischsprechenden Tadschiken das Sagen hatten. Ihre Erfolge verdankten die Taliban allerdings weniger ihrem Mut oder ihrem militärischen Geschick als der Käuflichkeit oder Feigheit der Mudschaheddinführer. Nach zwei Jahren erreichten die sunnitischen Eiferer im September ihr ersehntes Ziel, die afghanische Hauptstadt.

Vor dem Einmarsch der Taliban war Kabul für afghanische Verhältnisse geradezu eine Stadt der Libertinage. Aus Kassettenrekordern ertönten pakistanische und afghanische Schlager; die Frauen gingen unverschleiert zum Einkaufen. Sie stellten mehr als die Hälfte der Beamten in den Ministerien und Ämtern. Es gab eine Reihe von Frauenorganisationen, die die Gleichberechtigung der Geschlechter auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Es gab sogar weibliche Polizisten. Auf dem baumbestandenen Universitätscampus saßen junge Männer und Mädchen in Gruppen auf dem Rasen. Der Rektor, Mir Ahmad Schah Hassanyar, ein in den USA ausgebildeter Agrarwissenschaftler, ließ in den Hörsälen keine verschleierten Frauen zu.

Vier Tage nach dem Fall von Kabul schlossen die Taliban die Universität als „Stätte der Sünde und des Unglaubens“. Dort säßen Frauen und Männer auf der gleichen Bank. Wo ist der Rektor? „Er ist nach Hause gegangen“, antwortet der Pförtner, ein alter Mann mit todtraurigem Gesicht. Vor zwei Wochen seien vier Männer mit Kalaschnikows gekommen und hätten auf den Rektor gewartet. Als er gekommen sei, hätten sie ihn aus seinem Auto gezerrt und ihm den Wagenschlüssel weggenommen. Jetzt kommt er täglich mit dem Bus, sitze zwei Stunden in seinem Büro und gehe dann nach Hause.

Zu den ersten Staatsakten der Taliban gehört die Schließung der Mädchenschulen. Das sei nicht für immer, sagt Mullah Abdulsamalam, der Vizeminister für Erziehung. „Man wird für die Mädchen eine islamische Ausbildung erarbeiten.“ Damit die Schülerinnen keine Zeit verlören, erklärt der 26jährige Mullah, habe man sie alle eine Klasse höhergestuft. „Nach diesem System“, sagt Harawi, der Journalist, „macht meine Tochter in ein paar Jahren das Abitur, ohne lesen und schreiben zu können.“ „Das ist kein islamischer Fundamentalismus, sondern Paschtuwali“, sagt eine junge Frau, die vor den Taliban ins pakistanische Peschawar geflüchtet ist. Sie arbeitete in Kabul in einer Frauenorganisation, die sich um die Kriegswitwen kümmerte. In der Tat sind die Taliban keine Islamisten, wie etwa Gulbuddin Hekmatjar oder die persischen Mullahs. Was sie vertreten, ist eine Mischung aus Wahhabismus, dem sunnitischen Islam des saudischen Königreichs, und Paschtuwali, dem Stammesgesetz der Paschtunen. In der Paschtuwali, die viel älter ist als der Islam, verbietet Namus, das heißt die männliche Ehre in bezug auf den weiblichen Teil der Familie, den Frauen, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Als die Afghanen 1978 gegen die kommunistische Herrschaft zu den Waffen griffen, richtete sich ihr Zorn vor allem gegen die Schulpflicht für Mädchen. „Was die Taliban treiben, ist unislamisch“, hat vor kurzem Scheich Tantawi, der Großmufti von Ägypten und die höchste Autorität des sunnitischen Islam, den Taliban die Leviten gelesen. Der Islam, so der hochangesehene Rechtsgelehrte, fordere die Schulbildung für die Frauen ebenso wie für die Männer. Außerdem habe die Heilige Schrift niemals angeordnet, daß die Gesichter der Frauen verhüllt sein müßten. „Der Mufti versteht nichts vom Koran“, tut Mullah Mottaghi, der nur ein paar Brocken Arabisch spricht, die Kritik aus Kairo ab.

Was denken die Kabuli über die Maßnahmen der Taliban? „Die Frauen sind todunglücklich, die Männer freuen sich“, faßt der Journalist Harawi die Befindlichkeit seiner Landsleute zusammen. In der afghanischen Hauptstadt sind viele Männer gegen das Musikverbot oder gegen die obligatorische Teilnahme am Freitagsgebet. Doch nur wenige haben etwas gegen das Ausgangsverbot und die Zwangsverschleierung der Frauen einzuwenden. „Da ist doch nichts dabei“, sagt ein afghanischer Agraringenieur, der in Leipzig arbeitet und auf Besuch in der Heimat ist, „wenn die Frauen zu Hause bleiben und ihr Geld bekommen.“ Die Taliban haben verkündet, daß alle entlassenen Frauen weiterhin ihren Lohn bekommen werden.

Seit dem Fall von Kabul haben allerdings weder die Frauen noch die Männer auch nur einen einzigen Afghani erhalten. Gerüchte besagen, die gestürzte Regierung habe die gesamte Staatskasse in 14 Containern ins Panschirtal mitgenommen. Und da das afghanische Geld im Ausland gedruckt wird und das Taliban-Regiment von keinem Land anerkannt ist, sind die Quellen der afghanischen Währung versiegt. „Es gibt alles zu kaufen“, sagt ein Händler im Basar. „Doch es fehlt an Geld und Kundschaft.“

Scharen von bettelnden Kindern bevölkern die Straße – ein Novum für die stolzen Afghanen. Viele der Kinder müssen die Familie versorgen. Parvis, ein neunjähriger Junge etwa, geht morgens zur Schule. Vom Nachmittag bis neun Uhr abends, also bis zur Ausgangssperre, verkauft er auf der Straße Zigaretten. 6.- bis 7.000 Afghani, weniger als eine Mark, sind sein täglicher Verdienst. Damit muß er seine Mutter und seine kleine Schwester ernähren. Sein Vater ist vor zwei Jahren im Kampf gefallen. Sein Freund Abdullah, elf Jahre alt, hat es noch schwerer. Er wäscht nach Schulschluß Autos. „Heute fahren nur die Taliban mit dem Auto herum, und sie mögen keine gewaschenen Wagen“, sagt der Junge, der vor einem Jahr bei einem Raketeneinschlag einen Arm verloren hat.

Vor dem Einzug der Taliban hatte sich Kabul aus den Trümmern erhoben. Zwei Drittel der Stadt lagen in Schutt und Asche. Doch dort, wo noch etwas übriggeblieben war, erwachte die Stadt zu neuem Leben. Heute wirkt Kabul wie eine besetzte Stadt. Die Gandahari, wie die Kabuler die neuen Herren nennen, patrouillieren in japanischen Geländewagen mit getönten Fenstern auf den Straßen und halten Ausschau nach Sündern oder Panschiri. Die Landsleute von Ahmad Schah Masud, dem Feudalherrn der gestürzten Regierung, gelten als Feinde. In der afghanischen Hauptstadt herrscht Friedhofsruhe. Es gibt keine Schießereien, keine Straßenräuber, keine Drogenhändler, aber auch keine Musik und kein Lächeln mehr.

Bleibt Kabul, von dem einst ein afghanischer Dichter schrieb: „Die Feder grünt in meiner Hand, wenn ich deinen Frühling beschreibe“, in den Händen der paschtunischen Steinzeitmullahs? Das blutige Gerangel am Hindukusch ist längst nicht zu Ende. Die Schlacht zwischen Paschtunen, Tadschiken und Usbeken, fängt erst an. 25 Kilometer nördlich der Hauptstadt tobt der Kampf. Als wir nordwärts auf der sogenannten alten Straße in Richtung des Militärflughafens Bagram fahren, der sich inzwischen erneut in der Hand von Ahmad Schah Massud befindet, schlagen links und rechts im Tal Raketen ein. Die Dörfer entlang des Weges sind entvölkert. Die Taliban haben die Häuser niedergebrannt, in denen sie feindliche Heckenschützen vermuteten. Von Dschabal-as-Sara, 110 Kilometer nördlich von Kabul, hat Massud die Bevölkerung zum Widerstand aufgerufen. Von der Ortschaft aus werden auch die gemeinsamen Kampfhandlungen von Massuds Männern und den Truppen des Generals Abdurraschid Dostam, des Herren im afghanischen Norden, koordiniert.

Die Waffenbrüderschaft der beiden Männer ist ein Zweckbündnis. Dostam braucht Ahmad Schah, um den Eingang des Salang-Passes, des wichtigsten Verbindungsweges nach Norden, zu sichern. Im Gegenzug stärkt er den Panschiri, wie die Massud-Kämpfer genannt werden, den Rücken. Wie lang die Allianz halten wird, weiß keiner. In Afghanistan schließt man Bündnisse, um sie wieder zu brechen. Freunde waren Massud und Dostam noch nie. In den vergangenen Jahren haben sie sich blutige Kämpfe geliefert.

Der entmachtete Präsident und Kampfgefährte von Massud, Burhanuddin Rabbani, machte aus seiner Verachtung für den „verkappten Kommunisten“ Dostam keinen Hehl. Vor zwei Jahren rief er sogar zum Dschihad gegen den „Ungläubigen“ auf. „Väter und Söhne streiten sich manchmal“, begründete er kurz nach dem Einmarsch der Taliban nach Kabul die Versöhnung. Die dritte Partei im Anti-Taliban-Bündnis, genannt „Hoher Rat der Verteidigung Afghanistans“, das von Dostam geleitet wird, ist die Teheran nahestehende Wahdat, die Kampfgruppe der Hizara, der Schiiten mongolischer Herkunft aus Zentralafghanistan. Drei weitere Gruppen im Hohen Rat haben keine militärische Bedeutung.

In den vergangenen Wochen versuchte der pakistanische Innenminister, Nasirullah Baber, der als Ziehvater und Schirmherr der Taliban gilt, einen Keil zwischen die Verbündeten zu treiben. Mehr als einmal flog er zwischen Dostams Hauptstadt Mazar-i-Sharif und Bandahar, wo die Führer der Taliban residieren, hin und her. Doch es gelang ihm nicht, den usbekischen Warlord umzustimmen. Als die diplomatische Liebesmüh des pakistanischen „Napoleon“, wie Baber sich gerne von seinen Freunden nennen läßt, bei dem stiernackigen Usbeken keinen Erfolg hatte, gingen die Taliban zur militärischen Taktik über. Vor einer Woche griffen sie von Herat aus die Nordwestprovinz Badghis an, die zum Territorium Dostams gehört, um ihn zu zwingen, seine Truppen aus der Umgebung von Kabul nach Norden zu verlegen. Doch die Taktik erwies sich als zweischneidiges Schwert. Dostams Truppen, die sich bis dahin zurückgehalten hatten, griffen zum ersten Mal offen in die Kämpfe ein. Am Wochenende bombardierten Dostams Migs die Umgebung von Kabul. Auch die Stadt wurde erstmals nach dem Einzug der Taliban wieder getroffen.

Bis jetzt haben die Taliban die 20 von Paschtunen besiedelten afghanischen Provinzen kampflos eingenommen. Auch Kabul fiel ihnen wie ein reifer Apfel in den Schoß. Ob sie der massiven Feuerkraft der neuen Allianz standhalten können, bleibt abzuwarten. „Wir werden Kabul bis zum letzten Blutstropfen verteidigen“, sagt Mullah Mottaghi. In seiner Residenz in Gandahar rief der Taliban- Führer Mullah Muhammad Omar al-Mudschahid, der von 1.000 afghanischen Theologen zum „Amir al-Muminin“, zum „Fürsten der Gläubigen“ gekürt worden ist, das muslimische Volk Afghanistans zum Heiligen Krieg auf. Es war die neunte Ankündigung des Dschihad im afghanischen Bürgerkrieg.