Die Freiheit erstrample ich mir

■ Thomas ist offiziell „selbständiger Unterfrachtführer“, landläufig Fahrradkurier. Er flitzt ungesichert durchs Leben

„Richtig zufrieden bin ich nur, wenn ich mich frei und niemandem verpflichtet fühle.“ Als Thomas dies erkannte, schrieb er seine Kündigung als S-Bahnschaffner und stieg aufs Rad. Seit acht Jahren fährt er als Fahrradkurier durch Berlin. Eigentlich macht er den Job auch, um ein bißchen gegen den Zeitgeist zu strampeln: „Gegen das Höher, Schneller, Weiter der Autogesellschaft.“ Thomas flitzt, wann immer er gerufen wird. Fahrradkuriere, das weiß jeder, sind die tollen Jungs und Mädels in knallengen, quietschbunten Radlerhosen, immer verschwitzt und meistens gut drauf. Die haben Fun. Meint man.

Thomas schlägt sich ungesichert durchs Leben. Offiziell arbeitet der 37jährige als freier Unternehmer auf eigene Kosten. Aber er ist nur scheinselbständig, darf er doch nur für einen Kurierdienst fahren. Mit dem hat er einen Vertrag als „selbständiger Unterfrachtführer zur Beförderung von Sendungen“ abgeschlossen. Dafür, daß er Briefe und Disketten austrägt, zahlt er eine Vermittlungsprovision an das Unternehmen. Sein Fahrrad bringt er mit, das unverzichtbare Funkgerät hat er von der Firma gemietet. Am Ende eines guten Monats, nach etwa 2.000 gefahrenen Kilometern und ungezählten Treppen, springen im Schnitt 2.350 Mark bar heraus. Davon legt Thomas 150 Mark zurück, falls ihn ein Schnupfen ins Bett packen sollte. Zwar hat er sich privat gegen Unfälle oder Krankheiten versichert, aber niemand würde ihm einen Lohnersatz zahlen. Real rechnet er im Monat mit einem Nettoeinkommen von 1.800 Mark, ohne Rücklagen für neue Goretex-Anzüge oder Fahrradreparaturen. „Eine private Rentenversicherung kann ich mir davon nicht leisten“, sagt er. „Und eigentlich wäre meine soziale Absicherung Sache des Kurierdienstes.“

Thomas begreift sich eher als Angestellter. Fahrradkuriere fahren nach Weisungen der Einsatzzentralen, sind ausschließlich an einen Arbeitgeber gebunden, dürfen ihre Tarife nicht selbst bestimmen und müssen die vorgeschriebene Werbung auf ihre Rucksäcke kleben. Als einer seiner Kollegen sich weigerte, die Werbung auf seine Tasche zu pappen, wurde er gefeuert. „Wir fahren nach den Prinzipien des Manchester-Kapitalismus“, sagt Thomas.

Für die Kurierdienste ist das kein Problem. In ihren Büros stapeln sich die Bewerberlisten. „Dank der zunehmenden Arbeitslosigkeit wollen immer mehr Leute fahren. Egal zu welchen Bedingungen.“ In seinem gelernten Beruf als Erzieher rechnet Thomas sich wenig Chancen aus, mit 37 noch einmal unterzukommen. Und auch bei der S-Bahn ist der Zug für ihn abgefahren. Wie also könnte er zu seiner sozialen Absicherung kommen? „Würden die Kurierdienste verdonnert, die Fahrer einzustellen, gingen die Tarife in die Höhe und niemand würde mehr einen Fahrradkurier bestellen.“

Thomas schwärmt davon, mit anderen Kurieren eine eigene Firma aufzumachen, in der jeder fest angestellt ist. Sie würden in die Sozialkassen einzahlen und sich ein Urlaubsgeld gönnen. Damit die Preise für die Kunden niedrig bleiben könnten, würden sie sich mit einem mageren Gehalt zufrieden geben. „Selbstausbeutung wäre die Alternative“, lacht er, „und immerhin hätte ich später einen Rentenanspruch.“ Annette Rogalla