Entfesselte Wände

■ Campagnie Fattoumi-Lamoureux brillierte im Schauspielhaus

„Héla Fattoumi und Eric Lamoureux erzählen mit ,Solstice– von den Gefährdungen und Beschädigungen des Menschen“, heißt es im begleitenden Text zum Tanztheaterabend aus Paris, der am Dienstag im Schauspielhaus zu sehen war. Und weiter lesen wir: „Die Wahrheit und die potentiellen Möglichkeiten des Glücks liegen in uns selbst“. Pathetischer, allgemeiner, ja platter geht's kaum, und welche Kunst stellt nicht exakt diesen Anspruch? Desto erstaunlicher: Héla Fattoumi und Eric Lamoureux bewiesen, daß dieser Anspruch auf originelle Weise umsetzbar und ohne triviales Sentiment darstellbar ist.

Das lag vor allem daran, daß die beiden Tänzerinnen diesem programmatischen Text nicht folgten. Die gezackten Bewegungen, die da entstanden, wirkten einzigartig in ihrem Wechsel zwischen „Zeitlupe“ und ruckartig überdrehter Zeit. Die körperlichen Ausdruckselemente, die so entstehen, wirken ohne Pathos ungemein direkt. Die Langsamkeit zeigt Lähmung, die Schnelligkeit tödliches Funktionieren. In der Spannung zwischen beidem entstanden Standbilder und Skulpturen.

Bis die beiden – in Alltagskleidung und aus Seitengängen kommend – einen gemeinsamen Raum finden, verzichten sie auf tänzerische Virtuosität. Dann aber entfesseln sie mit rollenden Wänden, die sie mit atemberaubender Exaktheit herumschleudern, ein wahres Feuerwerk an äußeren Explosionen – ein Spiegel des Inneren. Alle Bewegungsbilder bauen die beiden sorgfältig, manchmal überlang auf.

So heterogen die Musik dieser gut einstündigen Produktion ist, so wichtig ist ihre Funktion: Schrottplatzartige Metallgeräusche wirken am Anfang bedrohlich, ein zeitgenössisches Streichquartett zeigt seelische Turbulenzen, das Knopfakkordeon und die Gitarre. In den seltenen Augenblicken des synchronen Gleichschrittes dagegen schweigt die Musik.

Partnerschaft funktioniert auf der Basis von Eigenständigkeit, so lautet eine der Botschaften der Choreographie, die das Paar seit 1985 tanzt – und das sieht man im bestem Sinne. Trotz der technischen Perfektion, die sich bei anderen häufig genug verselbständigt, gelingt den beiden Parisern fast durchgehend die Konzentration auf das, wovon sie sprechen, bzw. tanzen. Ein kurzweiliger und bereichernder Abend beim Bremer Tanzherbst. Viel Beifall.

Ute Schalz-Laurenze