Ode an die Menschheit

Joel Schumachers „Die Jury“ nach John Grisham – eine Verteidigung der Selbstjustiz? Das schwarze Publikum in Amerika jubelt  ■ Von Anke Westphal

An diesem Sonnabend war schwer etwas los im Kino der Einkaufs-Mall von Brunswick, Georgia. Die schwarze Hälfte des Kinopublikums jubelte und klatschte Beifall, wenn den Weißen auf der Leinwand eins übergebraten wird. Den bösen Weißen, wohlgemerkt, stereotypen Rednecks, white trash. Man konnte den Beifall verstehen, denn die Mehrzahl der weißen Männer in diesem Film verdienen alles, nur nicht die Anteilnahme oder gar das Mitgefühl des Kinogängers. Sie saufen oder demolieren schwarze Krämerläden, und wenn sie zu gebildet sind für offenen Vandalismus, dann intrigieren sie gegen die Schwarzen, wobei sie das Gesetz auf ihrer Seite wissen. Sind sie jedoch nicht gebildet genug, sehen sie so aus, als hätten sie dringend einen Kochwaschgang nötig, und stieren kleinen schwarzen Mädchen hinterher. Dabei bleibt es nicht.

Im nahezu ausverkauften Mall- Kino von Brunswick lief an diesem Abend „Die Jury“, ein Film über einen schwarzen Arbeiter aus den Südstaaten, der die beiden weißen Vergewaltiger seiner kleinen Tochter erschießt, als sie zur Vernehmung geführt werden. Carl Lee Hailey (Samuel L. Jackson) glaubt nicht daran, daß ihm vor einem weißen Gericht Gerechtigkeit widerfahren könnte. Doch ein junger weißer Anwalt aus guter Südstaatenfamilie, Jake Brigance, nimmt sich des Falls an.

John Grisham bestand bei der Verfilmung seines Romans auf Joel Schumacher („Batman Forever“) als Regisseur – keine schlechte Entscheidung. „Die Jury“ wurde, so unglaublich das klingt, als Starvehikel für einen Newcomer konzipiert, Matthew McConaughey. In seinem Jake Brigance ist die Botschaft des Films an das Amerika der Gegenwart zusammengefaßt. Zunächst sieht Jake nur eine Karrierechance im Fall Hailey, doch mehr und mehr wird er zum kommenden Mann – zum jungen, aus dem Süden kommenden Mann, der unter Gefahr für Leib und Leben auszieht, den Süden zu verändern. Dabei steht Jake eine Art versoffener, aber grundanständiger Mentor (Donald Sutherland) zur Seite – die unvermeidliche Reminiszenz an den symbolisch zum Staat hin erweiterten Vater, der zu beerben ist, dem es aber auch aus der Misere aufzuhelfen gilt.

Bankrotter Kämpfer für die Gerechtigkeit

Jake Brigance ist smart, wie er da vor Gericht im breitesten Südstaatendialekt seine gefühlsgeladenen Ansprachen hält, aber nicht ohne Schwächen. Er guckt zu tief ins Glas und hat zunehmend Probleme mit seiner Ehe (schön wie ein Pfirsich: Ashley Judd), weil seine Arbeit am Fall Hailey Familie und Kollegen bedroht. Zu Anfang eine Warnung, dann schlägt der Ku-Klux-Klan den Mann von Jakes tapferer Sekretärin – übrigens eine „gute Südstaatenfrau“ – tot und zündet Jakes Haus an. So wird seitens der Regie die Summe der Opfer auch der Hautfarbe nach ausbalanciert. Im Sturm der Gefahr fühlt sich der junge Anwalt von einer anderen angezogen, betrügt seine Frau aber dennoch nicht. Eine Gestalt wie Jake bedient die Anhänger von Bill Clinton und Bob Dole gleichermaßen: Idealismus gepaart mit Erfolg, beides entwickelt auf der Basis traditioneller moralischer Werte. Sandra Bullock spielt in dem Film nur eine Nebenrolle. Unter einem Regisseur wie Joel Schumacher würde sie jede Rolle spielen, so Superstar Bullock, die mit diesem geschickten Schachzug einen weiteren Kassenknüller in ihrer Filmographie verbuchen kann und zudem ihr Image als berühmtes und doch bescheiden gebliebenes, in diesem Fall nämlich immer noch lernwilliges girl next door festigt. Wer kann sich Sandra Bullock schon als bad girl vorstellen? Auch in „Die Jury“ übernahm sie den Part von Fräulein Nett, der Jurastudentin Ellen Roark, die über finanzielle Mittel verfügt und sich dem völlig bankrotten Anwalt Brigance für den heiklen Fall Hailey kostenlos als Rechercheassistentin zur Verfügung stellt.

Auch der Konflikt von „Die Jury“ ist einigermaßen absurd: Carl Hailey hat zwei Menschen erschossen – nun soll die Jury entscheiden, ob er unschuldig (tatsächlich!) oder schuldig ist, Freiheit oder Tod (tatsächlich!) verdient! Was gibt einem Menschen das Recht, am Leben bleiben zu dürfen – der Charakter? Hier weiterzudenken, führt auf extrem schwankenden Boden. Der folgende Auszug verrät wohl mehr über das Dilemma der politisch korrekten Rezeption von politisch korrekten Filmen als jeder noch so lange Essay. Das durchaus seriöse Magazin Entertainment Weekly bewertete „Die Jury“ nach dem US- Kinostart Anfang August in seinem keineswegs satirisch gemeinten Parents Guide so: „Worum geht's? Die Jurastudentin Ellen Roark und der Rechtsanwalt Jake Brigance verteidigen einen schwarzen Arbeiter (...), angeklagt des Mordes an den beiden Vergewaltigern seiner zehnjährigen Tochter. Wollen Kinder das sehen? Glücklicherweise nicht, denn John Grishams verstörender Roman ist nicht für sie gedacht. Sex/ Nacktszenen: Keine. Drogen/Alkohol: Kiffen, es wird viel Bier und Schlimmeres gekippt, einige Betrunkenheit. Gewalt/Angstmache: Nach der Vergewaltigung rastet Carl auf fatale Weise aus; der Ku- Klux-Klan schlägt zwei Leute zusammen und attackiert Jake mit einem Messer, und ein Demonstrant steckt einen Ku-Klux-Klan-Mann in Brand. Zu beanstandende Wörter und Phrasen (wie z.B. ,fuck‘): Über 50. Lehre des Films: Es gibt kein Leben und keine Freiheit ohne (haut-)farbenblinde Justitia. Geeignet: ab 17 und aufwärts.“

„Die Jury“ heißt in den USA „A Time To Kill“, aber es war nicht der Titel, der nach dem Filmstart für Unmut unter der weißen Bevölkerung sorgte. Joel Schumacher behandle den Süden, als herrschten dort auf ewig die fünfziger Jahre, schrieb eine Frau, Anfang Sechzig und seit langem in Missouri lebend, empört in ihrem Leserbrief an das Kinomagazin Premiere. Tatsächlich arbeitet Schumacher ja mit griffigen Dualismen. Der gute Schwarze, die bösen Weißen, die wiederum durch die guten Weißen, die dem guten Schwarzen helfen, relativiert werden – nach dem Motto: Es sind ja nicht alle schlecht. Emanzipation, so hat jemand gesagt, sei, wenn im Film ein unsympathischer Schwarzer eine sympathische weiße Frau vergewaltige und niemand eine Politik der Rassen daraus ableite. Insofern steht es mit der Emanzipation wie mit der absoluten Wahrheit: Man kommt nie richtig an sie ran.

Was bleibt, sind die Erinnerung an sehr begabte Schauspieler, alte Südstaatenvillen, brennende KKK-Kreuze und ein kurioses Happy-End. Die Weißen im Kino von Brunswick jedenfalls haben nicht gejubelt.

„Die Jury“. Regie: Joel Schumacher. Mit Matthew McConaughey, Samuel L. Jackson, Sandra Bullock, Donald Sutherland, Ashley Judd. USA 1996, 150 Min.