■ Die EU-Kommission und die Kriterien der Währungsunion
: Der Erzengel fällt um

„Wie komme ich nur ins Paradies?“ hat sich Theo Waigel in den letzten Wochen bestimmt ständig gefragt. Er, der so gerne der Erzengel Gabriel sein wollte, der mit flammendem Schwert vor den Pforten des Währungsparadieses wacht – er muß nun früher oder später eingestehen, daß auch die Bundesrepublik keinen Einlaß in die Europäische Währungsunion erhalten wird. Jedenfalls dann nicht, wenn die Bibel von Maastricht so streng ausgelegt wird, wie Finanzministerium und Bundesbank als Hüter des rechten Glaubens bislang propagierten. Erst vergangene Woche hatten die renommiertesten Wirtschaftsforscher der Republik in ihrem ansonsten durchaus von optimistischen Wachstumsprognosen geprägten Herbstgutachten festgestellt, daß 1997 die Neuverschuldung 3,5 statt erlaubter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen dürfte. Noch versucht der Hüter der Bundesfinanzen die Öffentlichkeit zu beschwichtigen, daß er schon noch das Defizit im Haushalt 97 weit genug drücken wird.

Doch so naiv, daß er selbst daran glaubt, wird Engel Theo angesichts niedriger Einnahmeschätzungen und eines Koalitionspartners, der Steuererhöhungen blockiert, hoffentlich nicht sein. Vielmehr dürfte er seine Flügel bei der Überlegung zerrauft haben, wie er dem Wahlvolk eröffnet, daß der Start in die Währungsunion unter nicht ganz so streng ausgelegten Kriterien wie versprochen erfolgen muß. Denn besagtes Volk verehrt seine stabile Mark so inbrünstig wie einst die Israeliten das Goldene Kalb.

In dieser Stunde der Not springt ihm die EU-Kommission zur Seite. Sie ist es nun, die an seiner Statt die Gerechten benennt, die durch die Pforten der Union gelassen werden. Wenn selbst Länder wie Belgien mit einer Gesamtverschuldung von 130 (statt 60) Prozent des Inlandsprodukts oder Spanien mit einem Haushaltsdefizit von 4,4 (statt drei) Prozent zu den Auserwählten gehören, muß die Bundesrepublik nicht als Sünderin zurückbleiben. Der nächste Akt werden ein paar gespielte Rückzugsgefechte des Erzengels Gabriel sein. Das Flammenschwert vertauscht er mit dem Stabilitätspakt, mit dem er trotz milder Einlaßkontrollen die Stabilität der Währungsunion verteidigen will. Doch unter seiner strengen Maske wird, während er ins Paradies einsegelt, ein seliges Lächeln auf seinen Lippen liegen. Nicola Liebert