Einen schönen Wahltag auch

Über sieben Sprachbarrieren mußt du gehen: Wenn Wahlhelfer kein Englisch sprechen, zum Beispiel. Dennoch wimmelte es in New York vor Polit-Pläuschchen  ■ Von Reed Stillwater

Amerikaner, Amerikaner! Was das schon heißt? Amerikaner seien alle, er auch, aber was für eine sie sei, will der Mann wissen. Na, Irin wahrscheinlich, mit dem Namen – Maloney – was sonst? Das ist es ja gerade. Der Mann weiß nicht, wozu er überhaupt und dann ausgerechnet die wählen soll. Er ist Pole, und in dieser Stadt mit dem ausbalancierten Gleichgewicht zwischen Italienern, Juden und Iren fühlt er sich nicht repräsentiert. Seinen Zorn läßt er an den Wahlhelfern aus, die schon seit halb sechs morgens hier stehen – im gesetzlich vorgeschrieben Abstand zur katholischen Kirche in der 89. Straße, in der an diesem Tag das Wahllokal eingerichtet ist. Dieser Teil der Upper East Side gehört zum 14. Wahlkreis des Bundesstaates New York, in dem es außer um Bill Clinton auch um die Wiederwahl der Abgeordneten Carolyn Maloney geht.

In der Kirche ist es an diesem Morgen voller als am Sonntag zur Messe. Einer der beiden Wahlhelfer spricht offenbar hauptsächlich Spanisch und hat seine Probleme mit den angelsächsischen Namen der hier registrierten Wähler. Jemand kommt ihm zur Hilfe. Draußen vor dem Kirchenportal scheint sich zu bewahrheiten, was vor der Wahl propagiert wurde: Der Wahltag ist eine Gelegenheit, seine Nachbarn kennenzulernen. Trotz der zweisprachigen Schilder, die das „Herumstehen ohne Grund“ vor dem Wahllokal verbieten, plaudern Nachbarn und Bekannte und lassen ihre Hunde sich beschnuppern.

Die Stimmung ist sonntäglich. Das hat nicht nur mit dem dunstig lauen Herbsttag zu tun, der sein diffuses Licht über die rot leuchtenden Herbstblätter in den backsteinernen Straßenschluchten strahlen läßt, sondern vor allem damit, daß an diesem Tag die Banken geschlossen sind und die Schule ausfällt. Das bedeutet über eine halbe Million Fahrgäste weniger in der U-Bahn, was für eine gewisse Entspannung sorgt.

Für eine Berufsgruppe in New York steht schon morgens um 9 Uhr fest, wer die Wahl gewonnen hat. John Marvin, Aktienhändler bei Schroders Wertheim & Co., schaut befriedigt auf das Zahlengewirr seines Bildschirms – Börsenmakler haben anders als die Banker nicht frei. Die Börse hat auf den Wahlsieg Clintons schon reagiert, noch bevor in Kalifornien überhaupt die Wahllokale geöffnet haben. Ein Wahlsieg Doles hätte ein höheres Haushaltsdefizit sowie höhere Zinsen erwarten lassen und damit die Kurse ins Rutschen gebracht. Mr. Marvin glaubt aus den Zahlenreihen sogar herauslesen zu können, daß die Regierung geteilt bleiben wird: republikanisch dominierter Kongreß als Gegengewicht zum Demokratischem Weißen Haus. Das ist gut für Volkswirtschaft und Geschäft.

Im „Bouchon“, dem französischen Lokal auf der 51. Straße, ist ungewöhnlich viel Betrieb. Am Nachbartisch wird über die Wahl geredet. Natürlich geht die schicke junge Dame wählen, und zwar gleich anschließend, was ihr Tischnachbar denn von ihr denkt? Mit „Schönen Wahltag auch!“ verabschiedet die Chefin ihre Gäste.

Downtown merkt man zunächst nichts von der Feiertäglichkeit des Wahltags. Aber die beiden chinesischen Gemüsehändler beklagen sich über das schleppende Geschäft. Ob sie denn selber zur Wahl gingen? Nein, entschuldigt sich der eine, er sei zwar Staatsbürger, aber – er müsse eben hier stehen und Geld verdienen. Sein jüngerer Gehilfe ist noch nicht lange genug hier, um Staatsbürger zu sein, bestätigt aber, daß Chinese sein vor allem dies bedeutet – er reibt lachend Daumen und Zeigefinger aneinander. Herr Fuong geht auch nicht wählen. Er kann kein Englisch und folglich nicht eingebürgert werden. Wie lange er hier schon lebe? Neunzehn Jahre.

In Harlem beleben sich nach Feierabend die dunkel gewordenen Straßen. Vor manchem Schnapsladen ist die Schlange so lang wie vor den Wahllokalen. Hier ziehen die Wahlhelfer noch mal alle Register, fahren mit Lautsprecherwagen herum, laufen in Vierergruppen die Lexington Avenue hinunter und verteilen Aufrufe zur Stimmabgabe. „Hau ab, Motherfucker!“ tönt es aus einer Gruppe Jugendlicher. Hier gingen nur die Älteren zur Wahl, die Jugendlichen seien zu sehr mit sich selbst beschäftigt, seufzt eine Wahlhelferin.

Am Rockefeller Center, wo NBC sein Hauptquartier hat, verkündet Tom Brokaw von zwei Riesenleinwänden einigen Dutzend Neugierigen und Obdachlosen die ersten Ergebnisse. Viel hübscher als sonst sähe das jetzt aus, wo die Fahnen aller Länder gegen amerikanische vertauscht seien, findet eine junge Frau.

Im Brecht Forum im 10. Stock eines Gebäudes in der 27. Straße hat sich jener Teil der Linken versammelt, der bei lyrischem Rap und satirischen Gedichten den Ärger über den sinnlosen Wahlzirkus vergessen will. Doch während des Vortrags versammelt sich eine Gruppe Politjunkies vor einem Fernseher. „Leiser!“ schreien die einen, die der palästinensischen Dichterin zuhören wollen; „Lauter!“ jene, die wissen wollen, ob Clinton Alabama gewonnen hat.

Auf dem Broadway steigen spät abends die Theaterbesucher zu. Zwei ältere Damen, die aus verschiedenen Vorstellungen kommen, geraten miteinander ins Gespräch, was nicht ganz einfach ist, weil beide mit schwerem, aber je unterschiedlichem Akzent sprechen, mit russischem die eine und ungarischem die andere. Schön sei die Vorstellung gewesen. Ja, aber ob sie wählen war, will die eine wissen. Die andere versteht nicht, Fahrgäste greifen helfend ein. Auf einmal unterhält sich der ganze Bus über die Wahlergebnisse.

In New York scheinen alle Clinton gewählt zu haben, der indische Zeitungsverkäufer, der schwarze Reklamezettelverteiler, der türkische Lederwarenhändler, die Linken im Brecht Forum nicht anders als die alten Damen im mitternächtlichen Bus auf dem Broadway. This is New York.