"Hauptsächlich Katastrophen"

■ Carl Hegemann, Chefdramaturg des BE, im Gespräch über Novalis und Pippi Langstrumpf, die Welt und das Theater

Carl Hegemann, geboren 1949 und Doktor der Philosophie, arbeitete zuvor in Berlin an Frank Castorfs Volksbühne und bei Leander Haußmann am Schauspielhaus Bochum. Weil dem Co-Direktor von Martin Wuttke und Stephan Suschke am Berliner Ensemble nach eigener Aussage die „Muße zur gründlichen Reflexion der Krise“ fehlt, findet die Verfertigung der Gedanken vor allem beim Reden statt.

taz: Carl Hegemann, die Spardebatte stranguliert die Berliner Theater. Seit dem „Arturo Ui“ dümpelt das Berliner Ensemble wieder vor sich hin. Und Rolf Hochhuth steht immer noch ante portas. Wie geht es Ihnen?

Carl Hegemann: Mir ist schleierhaft, wie wir Theater machen sollen, das zudem noch mehr Touristen nach Berlin ziehen soll, wenn die materiellen Produktionsbedingungen allmählich unter das Niveau des kleinsten Stadttheaters sinken. Das ist absurd, da es uns die Voraussetzung für jede produktive Auseinandersetzung entzieht. Andererseits ist das Ausmaß dieser Ausweglosigkeit mittlerweile dermaßen überwältigend, daß sich daraus neue Ansätze für künstlerische Prozesse ergeben. Wir beschäftigen uns im Theater ja hauptsächlich mit Katastrophen.

Ausweglosigkeit als Gegenstand des Theaters?

Nach dem Tode Gottes und seiner profanen wissenschaftlichen und weltanschaulichen Substitute gibt es keine Geltungskriterien mehr für allgemein verbindliche Wahrheiten. Keiner weiß mehr, wo es langgeht. Es herrscht allgemeiner Relativismus. Deshalb singt Pippi Langstrumpf: „Ich mach' mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt.“ Ich finde, dies ist wirklich eine hochverantwortliche Aufgabe, nicht nur des Theaters, sondern jeder Kunst. Der Begriff von Kunst rekonstruiert sich so als einer der Hervorbringung von Welten, in denen Menschen leben können.

Mit Novalis: Das Theater als Ort der Erschaffung von etwas „absolut Reellem“?

Mit Novalis oder mit Pippi Langstrumpf. Wenn es keine vorgegebenen Kriterien mehr gibt, muß man selber welche entwikkeln, nach denen man Welten konstruiert. Ich glaube, die Ahnung, daß das Theater ein Ort ist, an dem so etwas möglich ist, hält das Theater am Leben.

Das Theater als ein exterritorialer Ort innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft?

Das Theater befindet sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Gesellschaft. Eine faszinierende Institution, wo sich erwachsene Menschen verkleiden und Märchen spielen.

Märchen? Schade. Ich dachte, das Theater sei für Sie Ort öffentlicher Auseinandersetzung...

Trivialerweise ist es das nur, wenn es ein Produkt erzeugt, das sich in die Obsessionen und Gefühle und Gedanken der potentiellen Besucher einklinkt. Das gelingt ihm offenbar zunehmend weniger. Gegenüber anderen Medien, die dem Stand der Produktivkräfte eher entsprechen, ist das Theater anachronistisch, weil es zum Beispiel keine Großaufnahmen und kaum Recherchiermöglichkeiten hat. Deshalb sind nur die Theatertraditionen interessant, die sich auf das stützen, was das Theater ausschließlich hat: daß es ein öffentlicher Ort ist und daß die Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne virtuell überschreitbar ist. Im Theater kann eben tatsächlich etwas passieren. Zwischen Bühne und Zuschauerraum findet ein Akt der Begegnung statt, dessen Ausgang grundsätzlich offen ist.

Ihr Ansatz ist die metaphysische Obdachlosigkeit des Menschen nach dem Ende aller verbindlichen Theorie oder übersetzt: nach dem Tod des Vaters. Sie arbeiten aber als Chefdramaturg am Theater der Überväter Brecht und Müller.

Kann sein, aber Müller ist ein Übervater, der sich selbst als Vater durchstreicht, der sagt: Ich kann euch nicht helfen. Der Chefdramaturg des Deutschen Theaters, Michael Eberth, war zum Beispiel der Meinung, Castorf sei ein Vatermord gelungen, indem er in „Pension Schöller: Die Schlacht“ Müller-Texte mit Sprachfehlern hat sprechen lassen. Genau das hätte aber auch ein Einfall von Heiner Müller selbst sein können.

Und Brecht?

Natürlich gibt es hier zu Brechts Zeiten so etwa wie einen verbindlichen Katechismus. Aber mit dem ist natürlich auch die Vaterfigur weggefallen, die diesen Katechismus verkörperte. Für mich selbst stellt sich einfach die Frage, wie man aus den zerbrochenen metaphysischen Gewißheiten Funken schlagen kann. Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen Brecht und Müller. Weil die Elemente von Zynismus und Verzweiflung alle schon bei Brecht vorkommen. Schon Brecht ahnte, daß es eben doch nicht so geht, wie die Große Theorie sich das gedacht hat. Da kommt so etwas heraus, wie in der „Maßnahme“: die Tragödie der sich selbst ad absurdum führenden konsequenten Theoriebildung.

Fast alles, was Heiner Müller gemacht hat, kommt bei Brecht schon vor. Müller hat das Tragödienprinzip, das Brecht zwar sorgfältig versteckt hat, das ihn zugleich aber an die große Theatertradition von Aischylos über Shakespeare anschloß, offen angewandt. Das Prinzip des Ausweglosen. Müller selbst hat irgendwo gesagt: Brecht hat nur Tragödien geschrieben, und das macht ihn heute aktuell.

Welche Rolle spielt denn Shakespeare noch?

Shakespeare ist der Dichter, der die Welt in seinen Stücken neu erfindet. Und zwar so, daß man sie gleichzeitig als die eigene wiedererkennen kann: „O brave new world, that has such people in it!“ Ziemlich ambivalent.

Shakespeare, ein Welterfinder?

In meinen Augen ist Shakespeares Reflexion von Welt gleichzeitig die Erschaffung von Welt. Shakespeare verändert die Welt, indem er das Theater als Welt und die Welt als Theater interpretiert. Das ist das Problem mit der 11. Feuerbach-These, die eben nicht ganz so funktioniert, weil die Welt auch veränderbar ist, wenn man sie anders rahmt und anders interpretiert.

Wenn Sie Marx mit Novalis kreuzen, wie kann das Berliner Ensemble als „Hortus conclusus“ der Brecht- und Marx-Tradition ein neues Publikum gewinnen?

Ich glaube, ein großer Teil des Publikums erwartet ein identifizierbares Theaterereignis, das es an seine Erlebnisse im schönen Brecht-Theater erinnert, aus einer Zeit, in der komischerweise die Welt noch in Ordnung war. Damals wußte man, dort stand der Feind, hier waren die guten Menschen, und da war die Theorie, die einem sagte, wie das alles zusammenhängt. So etwas können wir ihnen natürlich nicht mehr bieten.

Aber genau das wollte der Brecht, auf den wir uns beziehen, auch nicht. Meine große Hoffnung ist, daß das Theater sich ernsthaft als Reflexionsanstalt und Versuchslabor begreift. Wenn es sich ernsthaft mit diesem absoluten Orientierungsvakuum auseinandersetzt und versucht, wie hilflos und vorläufig auch immer, Perspektiven zu schaffen. Perspektiven auch auf die gegenwärtige Tabula rasa. Es ist auch wichtig, daß man sich das eingesteht. Was nebenbei einen großen Unterhaltungswert hat. Auch das ist ein Motiv für unseren eher „leichten“ Auftakt mit Ionescos „Der König stirbt“. Da ist alles zerfallen, und niemand weiß, wo es langgeht. Und das kommt.

Vielleicht kommt Hochhuth?

Es gibt ja zumindest einen hier am Theater, der Hochhuth richtig liebt. Das ist Einar Schleef. Nur Hochhuth will nicht, daß Schleef noch einmal etwas von seinen Sachen inszeniert. Wenn Hochhuth fürs Brecht-Jahr ein Stück über Brecht schreibt, prüfen wir das ernsthaft. Er verlangt aber auch keine Extrawürste. Das hieße ja, wir machen Konzessionen, nur weil seine Stiftung Eigentümer einer Immobilie ist. Das würde er nicht wollen. Sagt er selber. Und das wollen wir ihm auch glauben. Interview: Nikolaus Merck