Disziplin: She-Hulk

■ Angela Guerreiros Choreografie „Fade – A Tryptich Of Stolen Stories“ hatte auf Kampnagel Premiere

In einem Interview zu ihrer neuen Tanzperformance Fade – A Triptych Of Stolen Stories behauptet die Choreographin Angela Guerreiro, daß sie mit dem „individuellen Text- und Bewegungsmaterial“ ihrer jeweiligen Tänzer arbeite, um diese erkennbar, in ihren Begierden und Konflikten faßbar werden zu lassen. Daran mußte sich die Premiere auf Kampnagel am Donnerstag messen lassen.

Fade montiert Szenen der Interaktion der zwei Tänzer Aloisio Avaz und Marc Rees und Guerreiros selbst um Einzeldarbietungen herum. Was sie im einzelnen aufbieten, um den leeren, in chlorgrün und blaßorange gehaltenen Bühnenraum zu füllen, wird zu Gruppenszenen zusammengeführt. Dabei läßt der Prozeß der Individualisierung sich nicht nur im Unterschied der verschiedenen Stile verfolgen, sondern auch in den für sich genommenen Soloparts.

Marc Rees zuckt, das ,Jucken der Irritation' bestöhnend, in seinem Lichtkegel herum wie ein toll gewordener Maschinenmensch: Mit Bewegungen, die dem Handbuch des Exerzierens entnommen sein könnten, verfällt er in große Gesten des Platzschaffens. Was im ersten Augenblick als spontan sich darstellt, wird immer wiederholt. So lange, bis selbst die Geste der Befreiung noch als Effekt der Disziplinierung der Körper erscheint. Der rebellische Versuch der Individualisierung ist Teil der Disziplin.

So wenig, wie es in Fade die ungebrochene Befreiung gibt, so wenig gibt es sonst irgend etwas Ganzes. Guerreiro und Avaz scheinen an einer Stelle in einen wilden Streit zu geraten, der wie eine persiflierte Schlacht aus einem Marvel-Comic wirkt: She-Hulk versus Triton. Aber irgendwann wird deutlich, daß die beiden genauso gut das Klischeebild wüsten Sexes abbilden könnten. Die Unentscheidbarkeit wird nie aufgelöst. Keine der möglichen Interpretationen paßt jemals ganz.

Diese Auflösung wird noch weiter vorangetrieben, als Sprache ins Spiel kommt. Avaz klettert auf Guerreiros Rücken und beginnt zu sprechen, seine Rede mit Augenaufschlägen und Schulterzucken interpunktierend. Nur daß seine Stimme nicht seine ist: Erst nach einiger Zeit wird klar, daß er sie sich von Guerreiro geborgt hat. Gegen Ende verleugnen die Drei sich gar vollständig, indem sie mit von Helium-Gas erzeugten Micky Mouse-Stimmen das Publikum veralbern.

Als sei das alles nicht genug, hat Hendrik Lorenzen noch ganz großartigen Industrial-Triphop mit Endlosaufnahmen von Rees' Stöhnen gekoppelt. Niemand sollte jemals mehr Fade im Sinne von ,blaß' benutzen. Matthias Anton