Selbstwert gegen null

■ Über Ursachen und Behandlung von Legasthenie wird vehement gestritten

Der erste Schultag. Die Lehrerin geht mit einem Stück Kreide an die Tafel, schreibt in großen Buchstaben „ROT“ darauf und fragt: „Wer weiß, was das heißt?“ Leo Martens starrt auf die Striche an der Tafel und weiß nicht, was sie bedeuten. Zunächst ist er nur verwirrt, wenig später sind Klassenzimmer für Leo Folterkammern.

Leo war ein begabtes Kind: Er lernt früh laufen und Flöte spielen, im Kindergarten beweist er als Zeichner Talent. Die Buchstaben an der Wand aber kann er nicht entziffern, und daran ändert sich auch in den nächsten Jahren nichts. Beim Lesen und Schreiben hakt es, doch Leo erfindet schnell Tricks, wie er sein Manko verheimlichen kann. Die Katastrophe kommt erst, als der neue Lehrer in der dritten Klasse bemerkt, daß Leo nicht lesen kann. In Deutsch ist er bald Klassenletzter, kurz darauf erfährt er, daß er Legastheniker ist.

Bei einem von fünf Kindern wird im Alter zwischen sieben und neun Jahren eine manifeste Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS) festgestellt. Die Kinder vertauschen und verdrehen Buchstaben und lassen beim Schreiben ganze Silben und Wörter aus. Dabei kommt ein nahezu unleserlicher Buchstabensalat heraus. Geholfen werden könne nur mit einer gezielten LRS-Therapie, erfahren Leos Eltern. „Leos Klassenlehrer sagte uns aber, daß das mit Leo was Seelisches sein müsse. Ich war geschockt“, erzählt seine Mutter Barbara Herzig-Martens.

So ähnlich beginnt für alle Eltern und Kinder der Spießrutenlauf nach der richtigen Behandlung. Hinter der verwirrenden Vielzahl von Ansätzen verbirgt sich vor allem der Streit über die Ursachen der Lernschwäche: Was macht ein durchaus aufgewecktes Kind zu einem Legastheniker? Bisher hat die Wissenschaft mehr als 40 verschiedene Erklärungen gefunden – so sollen feinmotorische Integrationsstörungen, genetische Dispositionen oder auch psychische Mängel für das Schulproblem verantwortlich sein. Daß es den Legastheniker nicht gibt, darüber sind sich die meisten Experten immerhin einig. Deshalb sei die individuelle Diagnose besonders wichtig, erklärt die Psychologin Dorothee Bindernagel. Aus Mangel an Beweisen hat die Kultusministerkonferenz 1978 Legasthenie als „Krankheit“ kurzerhand abgeschafft. Folglich lehnten die Krankenkassen die Übernahme der Kosten für spezielles Legasthenikertraining ab.

Weil die Förderung von Legasthenikern langwierig und die Erfolgsquote niedrig ist, schlief der Förderunterricht in gesonderten LRS-Klassen an den Westberliner Schulen nach und nach ein. Viele Eltern verzweifeln, ihr Kind gilt – die Botschaft ist deutlich – irgendwie als schwer von Begriff, und das Selbstbewußtsein der Kinder schrumpft in kurzer Zeit gegen null. „,Ich habe eine Sechs in Deutsch und bin trotzdem nicht mies!‘ Machen Sie das mal einem Kind klar, das jeden Tag drei Stunden vor den Schularbeiten sitzt, während die anderen Kinder draußen spielen“, sagt die Psychologin Renate Schönhoff vom Berliner Legastheniezentrum e.V.

Daß Legasthenie alles andere als Dummheit bedeutet, beweisen Intelligenztests. Der Legasthenieforscher Ronald D. Davis geht noch weiter: Er meint, daß Legasthenie keine Schwäche, sondern ein besonderes Wahrnehmungstalent sei. „Dieselbe geistige Funktion, die Genialität zeigt, erzeugt auch die Legasthenie. Sie ist eine Begabung, eine natürliche Fähigkeit, die das geistige Potential steigert“, glaubt der heute 53jährige Amerikaner. Anhand jahrelanger Selbstbeobachtungen – Davis ist selbst Legastheniker – fand er heraus, daß Legastheniker in dreidimensionalen Bildern denken und nicht in abstrakten Begriffen. Dabei seien sie 400- bis 2.000mal schneller im Kopf als andere, behauptet Davis in seinem Buch „Legasthenie als Talentsignal“. Er entwickelte eine Methode, mit der mittlerweile auch in Deutschland gearbeitet wird. Innerhalb einer Woche lernen die Probanden in einem Orientierungstraining, ihre „Desorientiertheit“ zu überwinden und ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Selbstangefertigte Knetfiguren ersetzen diejenigen Wörter, die keine eigenen Bilder ergeben – im Nu soll die Lernbehinderung der Vergangenheit angehören.

Leo hat viel ausprobiert, um seine Schwierigkeiten in der Schule loszuwerden. 2.000 Mark kostete das einwöchige Training nach der Davis-Methode. „Ich kann jetzt in der Schule gut aufpassen und muß nicht mehr soviel nacharbeiten“, erzählt der Zwölfjährige. Er sei in den ersten Tagen völlig verändert gewesen. Mit einem Schlag hätte er klarer und selbstbewußter gewirkt, erklären auch seine Eltern begeistert. Seine Schulleistungen verbessern sich allerdings nur langsam.

Von Schnellkursen dieser Art hält die Psychologin Renate Schönhoff wenig: „Was nützen einem Orientierung und Knete, wenn man in der Scheiße steckt. Legasthenie hat immer auch einen psychosozialen Hintergrund.“ Rechtschreibprobleme seien durch eine Therapie nicht lösbar, erwidern dagegen die Anhänger der Trainingsmethoden. Leo ist das egal. Hauptsache, er ist nicht länger der Idiot der Klasse. Anna Petry