■ Vorlauf
: Keine Fahrkarte mehr

„Neben der Zeit“ (Sonntag, 23.15 Uhr, ARD)

Vielleicht wird es diese öden Kleinstadtbahnhöfe im Osten weiter geben. Vielleicht werden Aldis in die Mitropa-Räume ziehen. In diesem Film, in diesem Städtchen neben der Welt, neben der Zeit, spielt das keine Rolle. „Hier ist nämlich Schluß, mußt du wissen“, sagt Sophie zur Mutter. Sophie ist die Bahnhofsvorsteherin. „Fahrkarten gibt's auch keine mehr.“

Es wäre dem deutschen Film zu wünschen, daß öfter mal eine Zeitenwende passiert. Die macht mit der Zeit das, was Filme am liebsten haben, zerstückelt sie, erlaubt ihr den Plural: Zeiten gibt es dann, die sich neben-, hinter- und übereinander auffächern lassen. Auch wenn Andreas Kleinert seinen neuen Film nicht „Neben der Zeit“ genannt hätte, hätte man seine Welt genau dort verortet. Keine Wende, kein Wessi, nur eine mühsam zusammengehaltene Ödnis, an der ein ICE vorbeirast. Und irgendwo ein unmöglicher Traum: Berlin!

So eine lieblose Welt und die Liebe, eine unerhört scheue Liebe zwischen Sophie und dem Russen Sergej. Der ist aus dem Irgendwo in diese vergessene Zeit gekommen. Die sehr schöne Sophie (Julia Jäger), die die geschlechtslosen Männer des Ortes verständlicherweise abweist, muß ihn einfach aufgreifen auf dem Mitropa-Klo. Er radebrecht die Liebeserklärung aus einem Heftroman, sie hält ihm eine Spiegelscherbe hin zur Rasur. Sebastian Richters Kamera zeigt die Liebe, als ob sie keine Lüge wäre und konfrontiert sie mit Sophies Familienwelt, die außer einem schalen Geheimnis nichts mehr hat. Diese schöne Liebe hat nur ihre Destruktion zum Ziel.

Am Ende tanzt Sophie in Mutters Hochzeitskleid mit Sergej langsam durchs Wohnzimmer. Auch diese Idylle wird zerstört: Georg, der Bruder (Sylvester Groth), stehengeblieben wie alles, legt nicht mehr Sinfonien auf, sondern Hardrock und schleudert die Mutter (Rosel Zech) im Nebenzimmer herum. Ende einer Kunstwelt, nach ihr, neben ihr ist nichts. Der weiße Wolga, Georgs ganzer Stolz, endet unter der Schrottpresse. Es gibt keine Russen mehr in Deutschlands Osten. Es wird keine solchen Filme mehr geben. Lutz Meier