"Tradition aus dem Kleinen"

■ Faschismus ist ein gewaltsamer Umgang mit der Realität. Klaus Theweleit über die Goldhagen-Debatte, Gewalt und demokratische Traditionen

taz: Herr Theweleit, die Goldhagen-Debatte ist abgeflaut, aber keineswegs abgeschlossen. Glauben Sie, daß sie eine Wirkung behalten wird, die über Historikerinteressen hinausgeht?

Klaus Theweleit: Solche großen Debatten können aufklärend sein, sie werden aber auch inszeniert, um das Thema in Schüben zu erledigen, als Abfuhrvorgang. Eine Debatte, die wirklich etwas bewirken soll, fängt erst da an, wo nicht vor dem einzelnen, seinem Anteil, seinen Motiven haltgemacht wird. Vielleicht ist erst nach der Wiedervereinigung und mit dem Aufkommen eines neuen Rechtsradikalismus eine liberale Öffentlichkeit bereit, einzuräumen: Wir Deutschen sind nicht nur verführt und getäuscht worden. Und diesen Schritt machen sie, weil Goldhagen ihnen nicht alles abverlangt. Er tritt nicht gegen die jetzigen Deutschen an. Insofern ist er ein richtiger Goldjunge. Er stellt uns einen Persilschein aus, wir seien so demokratisch wie jeder Amerikaner.

Sie haben sich in Ihren Büchern, vor allem in „Männerphantasien“, immer wieder mit der Frage körperlicher und gesellschaftlicher Gewalt beschäftigt. Ist faschistische, nationalsozialistische Gewalt „vererbbar“?

Nein. Aber Faschismus ist keine Ideologie, sondern eine Art, mit der Realität gewaltsam umzugehen. Jeder ist dafür anfällig, nach Maßgabe der Gewalt, die in ihn hineingegangen ist. Manchen Körpern ist Gewalt eine Notwendigkeit. Dazu nur soviel: Täter machen sich in der Regel „heil“ mit ihrem Gewaltakt. Sie beginnen „zu leben“. Da Goldhagen sich für das, was im Täter vorgeht, gar nicht interessiert, sondern ihn nur moralisch verurteilt, sind Täter bei ihm die anderen, das unverstandene „Andere“.

Das „unverstandene Andere“ ist nicht unbedingt die Sache von Historikern?

Man braucht nur 20 Jahre zurückzuschauen auf den ganz normalen amerikanischen Soldaten in Vietnam oder 200 Jahre auf die ganz normale Ausrottung der amerikanischen Indianer und auf die ganz normalen Ausrottungen der letzen 20 Jahre an allen Ecken der Welt. Da rotten ganz normale Männer, ohne Antisemiten zu sein, oder spezielle Antiindianer oder Antimoslems, die jeweils Andersartigen aus. Die Morde der deutschen Polizeibataillone, die Goldhagen darstellt, sind diesen Morden genau vergleichbar. Da will aber die Debatte gar nicht ran. Historiker wollten da noch nie ran, vielleicht weil sie es nicht können. Ihnen fehlt die Kenntnis des Psychischen, das Wissen der Poeten, Wahrnehmung von Gewalt im Alltag zählt nicht zu ihren „seriösen Quellen“, das fällt raus. Goldhagen, der Sonnyboy, hilft dabei. Er ist nicht der böse, der dunkle Hagen, der jetzt kommt mit seinem Speer und dem deutschen sauberen Siegfried in den Rücken stößt. Er kommt von vorn, offen, sympathisch, ein bißchen Kennedy plus Günter Jauch, ein guter Hagen, eben ein Goldhagen.

Ist die demokratische Bundesrepublik weitgehend nur Tünche und nicht porentief demokratisch?

Ich würde nicht sagen, daß das Tünche ist, und darunter lauert die Gewalt. Als ich Anfang der achtziger Jahre in Jugoslawien war, in Zagreb, Belgrad und Split, habe ich sehr zivilisierte Menschen gesehen. Hätte wer gesagt, in acht Jahren geht diese Schlächterei hier los, hätte ich gesagt: Unfug, hier ist eine der zivilisiertesten Gegenden der Welt.

Ein überzeugter Demokrat zu sein und zugleich Rassist, ist das ein Widerspruch?

Nein. Demokratie ist nicht die Idee vom gleichen Lebensrecht aller Menschen. Demokratie sagt nur etwas aus über die Staatsorgane: In einigen wird nach Mehrheiten entschieden. In dem Sinne haben wir lauter gute Demokraten. Wie weit sie bereit sind, gleiche Freiheiten für alle zu fordern und andere wirklich leben zu lassen, ist davon nicht berührt. Das zeigt sich erst in schweren Krisensituationen.

Wie stark ist diese Kraft heute in Deutschland?

Wenn man das Jahr 1989 nimmt, den Anstieg rechter Gewalt, den Abbau von zivilen Rechten, von der Sozialhilfe bis zum Zurückdrängen des Feminismus in der Öffentlichkeit, ist das alles andere als vertrauenerweckend. Das spricht nicht für große demokratische Reserven, eher für ein Denken und Fühlen in Hierarchien.

Wie war es möglich, daß Deutschland trotz des starken Nazi-Mittelstandes, der über das Hitlerregime hinaus in allen Institutionen auf allen Ebenen vertreten war, so demokratisch werden konnte?

Durch Gegenkräfte außerhalb der Institutionen, angefangen mit der außerparlamentarischen Opposition, später den feministischen und ökologischen Gruppen. Der „lange Marsch durch die Institutionen“ war eine Formel, die so geprägt wurde, weil man viele Staatsorgane als im Innern nazistisch empfand und fürchtete, dort verschluckt zu werden. Also mußte man hindurch, um sie grundlegend zu verändern. Überall stieß man auf diesen alten Nazi-Mittelbau. Die Herren wußten sehr gut, welche Macht sie in Händen hielten, sie wußten genau, wen sie nicht reinlassen wollten. Das hat bei den Jüngeren ein starkes demokratisches Potential geschaffen. Und durch die vielen, die dann doch in Institutionen hineingegangen sind, als Lehrer, Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Anwälte oder in die Parteien, hat das dann auch in ihrem Inneren gewirkt. Man kann von den zwischen 1940 und 1960 Geborenen sagen, daß sie die am wenigsten kriegerische Generation der letzen 200 Jahre sind.

Ist es denn dieser Generation gelungen, dieses am wenigsten Kriegerische und am ehesten vergleichsweise Demokratische an ihre Kinder weiterzugeben, oder ist es bereits wieder abgebrochen?

Man gibt selten was direkt an die Kinder weiter. Wenn das so wäre, wäre meine Generation mit den vielen faschistischen Eltern auch genuin faschistisch geworden. Das Aufwachsen von Kindern läuft immer auch über die Abwehr von Elternanteilen. Die Kinder unserer Generation haben eher verdeckte Botschaften gekriegt: von relativ lässigen Eltern, in Familien, in denen über Politisches eher nebenbei geredet wird. Ich glaube nicht, daß ein besonderer Impuls in unserer Generation dagewesen ist, den Kindern Demokratie beizubringen. Wir dachten, die werden es schon lernen.

Kommen die Deutschen endlich voran in dem Bemühen um eine nach und nach immer tiefer sitzende republikanische Tradition?

Republikanische Tradition konnte man in Frankreich entwickeln oder England mit ihren bürgerlichen Revolutionen. Bei uns nicht mehr. Dafür ist die Gesellschaft zu unüberschaubar. Sie zerfällt in Enklaven, wo Einzelentscheidungen getroffen werden, ohne daß jemand etwa die Nation im Blick hätte dabei.

Demokratisches Traditionsbewußtsein müssen wir woanders herholen, mehr im Kleinen entwickeln. Das geht vor allem in Beziehungen zwischen Mann und Frau, in anderen Paaren, zwischen Eltern und Kindern, in Schulen, am Arbeitsplatz. Werden Fairness und Gleichberechtigung vorgelebt oder nicht?

Demokratisches Verhalten verzichtet im Prinzip auf Gewalt, und Gewaltlosigkeit lernt man nur im engsten Zusammenleben, sonst nirgendwo. Also wie geht es in der Schule, in der Familie, im Betrieb: Fällt die Tötungsdrohung oder nicht? Heißt es: Wenn du nicht spurst, wirst du untergebuttert, wirst du entlassen, wirst du bestraft? Institutionen drohen ihren Mitgliedern, wenn sie die Regeln nicht befolgen. Sie haben die Macht, zu strafen. Wer da drin ist, merkt das. Und wer das merkt und nicht getötet werden will, paßt sich dem an und wird immer bereiter, die Gewalt, der er selbst ausgesetzt ist, gesteigert weiterzugeben. Das ist einer der Mechanismen, mit denen man beim Holocaust enden kann.

Heißt das, daß sich der Holocaust jederzeit und überall wiederholen kann?

Nicht jederzeit und überall, aber immer irgendwo. Gewaltakte sind abrufbar: Wenn politische Macht sich in der Klemme fühlt, wenn ein Kampf um die Macht beginnt, führt dies meist dazu, daß Gruppen ausgegrenzt, zu „Zersetzern“ erklärt werden, wie die Juden in Deutschland, bis eine Mehrheit ihr Heil in der Zerstörung der anderen sucht.

Die Schuld übernimmt die Institution, die Täter fühlen sich nicht nur entlastet, sondern beauftragt. Die Mehrheit derer, die mit der Macht gehen, nimmt diesen Auftrag an und führt ihn durch: wie in jeder einzelnen Schilderung aller Gewaltakte auf der Welt zu sehen ist, nicht aus Zwang und auf Befehl, sondern mit Lust. Das Gelächter, aus Angst vor dem eigenen Zerfall geboren, ist das begleitende Tatgefühl aller „willigen Vollstrecker“. Zur Untermauerung dieser Wahrnehmung bietet Goldhagens Buch weiteres schreckliches Material. Interview: Mechthild Blum und Wolfgang Storz