Der Körper als lästige „Wetware“

Zwei Bücher über die Cybermanie als neuen Kult: Gundolf S. Freyermuth bedient das technoide Erlösungsbedürfnis unserer Tage, Mark Dery untersucht die neue Allianz von Schamanentum, Neofuturismus und Ultrakapitalismus  ■ Von Niels Werber

„Cyber-Sintflut“ nennt Wolfgang Frühwald, der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, das „apokalyptische Szenario“ einer „alles überschwemmenden“ elektronischen Informationswelle. Daß in der elektronischen Brandung die „Buchkultur“ jämmerlich untergeht, ist aber schon allein deshalb nicht zu befürchten, weil soviel gerade über dieses Thema geschrieben wird.

Bücher über den sogenannten Cyberspace sind paradoxerweise populär. Da das Publikum aus Furcht, die Auffahrt auf den Informationshighway zu verpassen, dem Buchhandel jedes Produkt mit Data, Cyber, Digital oder Virtual im Titel dankbar abnimmt, versteht es sich, daß Autoren, die sich nur halbwegs mit den neuen Medien auskennen, schnell etwas zusammenschreiben, das dann vom nächstbesten Verlag umgehend von der Diskette in den Computersatz gegeben wird, so daß nach wenigen Tagen das neueste Paperback zum Thema auf den Ladentischen landet.

Man kann es also Gundolf S. Freyermuth nicht im geringsten verdenken, daß er dem renommierten Verlag Rowohlt Berlin eine schnell geschriebene „Führung durch den High-Tech-Underground“ verkauft hat, die in einem (wie originell!) als Homepage aufgemachten Cover mit der spektakulären Verheißung erschienen ist, Gundolf der Graue führe „uns in das Land der zukunftssüchtigen Cyberianer“, in die Welt der „Cyberpunks und Cybernauten, Kryoniker, Cyborgs und Extropianer“. Der „Homo super sapiens“ leuchtet uns auf dem Cover voran, „Cybersex“ und „Ficktion“ verspricht die Reiseleitung, wer wollte da nicht hinterher. Kursive Angaben über die Reisestationen sorgen mit ihrer Hypergenauigkeit für Authentizität: „Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Straßen der Bay Area. Zeit: 26:30 h nach dem ersten Kontakt.“ Freyermuth spricht mit dem „Mondo 2000“-Herausgeber R.U. Sirius. Oder: „Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, ein Büroraum in Marina del Rey bei Los Angeles. Zeit: 2:30 h nach dem ersten Kontakt.“ Freyermuth plaudert mit dem Extropianer Max More. Er trägt seine „goldenen, schulterlangen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden“, Sirius trägt seine „einen halben Meter“ langen, „dunkelblonden Haare“ offen.

„L.A.: Die Sonne brennt, perfekter Look, perfekter Halt“, denkt man fast automatisch. Zugleich ist es so, als kröchen diese Zeilen über den TV-Screen, um darüber zu informieren, wo Agent Moulder mit einem Alien aus den X-Files Kontakt aufnimmt. Und wie es sich für das Genre gehört, bezahlt man diese recht überflüssigen Detailangaben zur „Location“ an anderer Stelle mit mangelnder Präzision. So hat man zum Beispiel den Eindruck, Freyermuth habe Nicholas Negroponte, der von ihm bisweilen den falschen Vornamen Michael verpaßt bekommt, im MIT Media-Lab besucht und ihn persönlich in ein Gespräch über die Zukunft der Kommunikationstechnologien verwickelt. Ort: nordamerikanischer Kontinent, Ostküste, Media Lab...: „Wie kann man Audiokommunikation besser empfangen als durch einen Ohrring oder wie fernmündliche Mitteilungen besser senden als durch ein Revers? fragt Nicholas Negroponte“, so liest man.

Gefragt hat Negroponte dies gewiß, aber wohl kaum Herrn Freyermuth im speziellen, sondern das Publikum seiner Wired-Artikel und seines Buches „Being Digital“ im allgemeinen. Aber vielleicht ist die Frage, ob das Gespräch mit Negroponte, über dessen Frisur man bezeichnenderweise nichts erfährt, wirklich stattgefunden hat, im Zeitalter der virtuellen Welten auch nebensächlich. Wer will noch altmodisch zwischen Original und Kopie unterscheiden?

Was erfährt die Reisegruppe übers Cyberland? Zunächst einmal, daß es in der Zukunft liegt. Ob es nun um die technische Vervollkommnung des Körpers geht (Cyborgs) oder die Umgestaltung des Menschen durch nanotechnische Manipulationen der DNA; ob nun um die relative Unsterblichkeit mittels Übertragung des Geistes in die Rechner des Cyberspace, durch Einfrieren von Körper und Geist bis zur Wiederauferstehung (Kryonik) oder den ständigen Austausch abgenutzter Organe durch nagelneue bionische Implantate angestrebt wird oder gar der evolutionäre Quantensprung der Menschheit in einen weltweit vernetzten Supermetabolismus erwartet wird – all dies sind nichts als Visionen. Freyermuth präsentiert ihre Propheten und Jünger als „Naturwissenschaftler, Programmierer und Ingenieure“, die sich „vorrangig mit Lebensverlängerungs- und Unsterblichkeitstechniken“ beschäftigen, mit „smart Drugs, Nanotechnologie, maschineller Intelligenz, elektronischer Wirtschaft und freien Weltraumgesellschaften“.

In Kalifornien glaubt man sich an der ultimativen „frontier“ zu befinden, deren Überschreitung ins „Paradies“ führen soll, in der alle „planetarische Not und Gewalt“ ein Ende haben werde, da der unsterbliche Geist das leidige Fleisch (meat) endlich verlassen wird. „Mediziner, Biologen und Genetiker, Informatiker und Nanologen“ seien schon dabei, „den Umbau unserer biologischen Existenz zugunsten einer leistungs- und widerstandsfähigeren, tendenziell unsterblichen, eben postbiologischen Lebensform“ ins Werk zu setzen.

Dies klingt nicht nur wie Science-fiction. Dennoch stellt Freyermuth fest: „Die entwickelten Gesellschaften dieses Planeten haben am Ende des 20. Jahrhunderts komplizierte Symbiosen zwischen Menschen und Maschinen ausgeformt – Cyborg-Zivilisationen.“ Wo verstecken sich diese „entwickelten Gesellschaften“, Agent Gundolf? Oder machen ein paar Herzschrittmacher und Hörgeräte aus der guten alten Menschheit schon eine Rasse „transhumaner Übermenschen“?

Nun ist all der ganze Spaß nicht einmal gut ausgedacht, sondern schlecht nachgemacht. Mark Dery hat ein seriöses Buch über „Cyberculture at the End of the Century“ verfaßt, das Gundolfs „Cyberland“ wie ein verunglücktes Klonexperiment aussehen läßt. Obschon die „Führung“ durchs „Cyberland“ nichts zeigen kann, was man bei Dery nicht auch fände, sind die Unterschiede zwischen beiden Büchern enorm. Mark Dery ist nämlich ein „cultural critic“ im besten Sinne des Wortes. Er präsentiert uns die Cyberdelic West Coast nicht nur als schillernde Oberfläche, sondern fragt nach ihren kulturellen, politischen und ökonomischen Entstehungsbedingungen. Für Dery ist es nicht so entscheidend, auf vielen Seiten darüber zu spekulieren, ob und wann Mikroroboter der menschlichen DNA zur Unsterblichkeit verhelfen; Ziel seiner Analyse ist vielmehr das Problem, warum sich am Ende des 20. Jahrhunderts ausgerechnet eine Technoreligion bildet, deren Evangelium die „post-evolutionary apotheosis“ des Menschen in ein „postbiological paradise“ unterschiedslosen Glücks ist.

Dery ermittelt zum einen die historischen Bezüge der cyberdelischen Semantik. Hinter dem ultramodernen State-of-the-art-Jargon legt er eine Mixtur aus „millenaristischer Eschatologie“, neopaganen und magischen Schamanismus, Neofuturismus, Manchesterliberalismus und einem mit McLuhan gelesenen, holistischen „Teilhardischen wissenschaftlichen Humanismus“ frei (nach Teilhard de Chardin, einem katholischen Theologen, der in den 50er Jahren die Gottwerdung der Menschheit durch Technik vorhergesagt hat).

Zum anderen sucht Dery nach den „unmittelbaren sozialen, politischen und ethischen Implikationen des Posthumanismus“, denn wenn er auch an die technische Realisierung all der Cyberträume nicht glaubt, so doch an ihre aktuellen Auswirkungen. Der darwinistische Ultrakapitalismus der Extropianer, der Eskapismus der Optimisten, die eine Lösung aller sozio-politischen und ökologischen Probleme in die Zukunft von der transhumanen Cyborg-Gesellschaft erträumen, die Verdinglichung (und Schlimmeres) des Körpers zu auswechselbarer „Wetware“ oder zum hinderlichen meat sind als attraktive Ideologien der Cyber-Szene schon in der Gegenwart nicht ohne Konsequenzen.

Derys Essay ist nicht nur als eine bei diesem Thema recht seltene Kombination von profundem Überblick und scharfsichtiger Kritik lesenswert, sondern auch wegen der Einbeziehung der Popkultur in den Kontext seiner Analyse. Seine interessanten Lektüren zahlreicher Romane, seine Anmerkungen zu Filmen vom „Terminator“ bis zum obskuren „Tetsuo“ von Tsukamoto, zur Body-art eines Stelarc oder einer Orlan sind äußerst anregend, da unterschiedliche Phänomene der Künste überzeugend auf gemeinsame Wurzeln in der Cyberculture bezogen werden können.

Die Lektüre dieses mit einigen aufschlußreichen Illustrationen versehenen und auch noch gut geschriebenen Buches lohnt sich also. Den Erwerb von Klonen kann man sich sparen.

Gundolf S. Freyermuth: „Cyberland. Eine Führung durch den High-Tech-Underground“. Verlag Rowohlt Berlin 1996, 283 Seiten, 36 DM

Mark Dery: „Escape Velocity. Cyberculture at the End of the Century“. Grove Press, New York 1996, 376 Seiten, ca. 54 DM