Aus dem Knast ins Schloß Bellevue

Was ist aus der Bürgerrechtsbewegung geworden? In Berlin trafen sich Dissidenten aus der Ex-DDR und der Tschechoslowakei. Gibt es nach der Revolution noch eine gemeinsame Mission?  ■ Aus Berlin Christian Semler

Nicht eine rauchgeschwängerte Altbauwohnung in Prag oder Ostberlin war der Treffpunkt, sondern das Schloß Bellevue. Und eingeladen hatten nicht unabhängige Vorkämpfer für die Menschen- und Bürgerrechte, sondern die Staatspräsidenten Roman Herzog und Vaćlav Havel. Aber gekommen sind sie am Donnerstag doch (fast) alle, die ehemals notorischen Bürgerrechtler aus der DDR und aus Tschechien.

Eine paradoxe Verkehrung der Geschichte. Denn die ostmitteleuropäischen demokratischen Dissidenten waren in ihrem Selbstverständnis nicht nur Gegner des Realsozialismus, sie liebten generell den Staat und seine Repräsentanten nicht besonders. Ihr Zusammenschluß sollte gerade Keimzelle der „zivilen Gesellschaft“ werden, eines Zwischenreichs, durchzogen von der buntscheckigen Vielfalt der Initiativen und Vereinigungen, gerichtet gegen die Vereinzelung und die Banalität der bürokratischen Großorganisationen. War die Einladung der beiden Präsidenten nun ein Zeichen für die Zivilisierung der Staatsmacht, oder besiegelte sie die offiziöse Eingemeindung der Widerständler?

Es hätte leicht eine peinliche Veteranenveranstaltung werden können, wurde es aber nicht. Denn Václav Havel stellte am Anfang des Gesprächs eine ebenso einfache wie richtige Frage: Haben wir, die wir heute in die unterschiedlichsten Lebensbereiche verstreut und politisch zerstritten sind, noch eine gemeinsame Aufgabe? Für Havel war die Antwort klar. Jenseits der Parteigrenzen müssen sich die Dissidenten ihrer gemeinsamen Wurzel erinnern: der Politik aus dem Gewissensentscheid. Was ist aus dem Gemüsehändler geworden, der in Havels „Versuch in der Wahrheit zu leben“, sich weigerte, das Transparent „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“ in sein Schaufenster zu hängen? fragte Jürgen Fuchs den Präsidenten. „Er ist heute Millionär“ antwortete Havel. That's the problem.

In der ehemaligen Tschechoslowakei war das Menschenrechts- Programm der Charta 77 Ergebnis eines kunstvollen Kompromisses gewesen, auf den sich, woran der Priester Václav Malý erinnerte, Reformkommunisten, Christen und prinzipiell Parteilose wie Havel geeinigt hatten. Dieser Kompromiß hat die samtene Revolution nicht überlebt. In der DDR war demokratischer Widerstand, worauf Marianne Birthler aufmerksam machte, das oft spontane Ergebnis des Wunsches gewesen, einfach „zu leben“, Spaß jenseits der Grenzen des Erlaubten zu haben, seine „Integrität“ zu bewahren. Die heutige Isolation der Bürgerrechtler kommt nach Marianne Birthler daher, daß sie als lebendiger Beweis für eine alternative Lebensweise im Sozialismus herumlaufen. Die frühere Stärke der DDR-Bürgerrechtler ist heute ihre Schwäche geworden.

Die Diskussion im Schloß Bellevue wurde dadurch erschwert, daß die Schieflage im Verhältnis der tschechischen zur DDR-Opposition nicht richtig zur Sprache kam. Die DDRler waren jünger, vom Prager Frühling als Halbwüchsige begeistert, von seiner Niederlage erschüttert, vom späteren Widerstand der Charta 77 zur politischen Aktion inspiriert. Jürgen Fuchs und Arnold Vaatz schilderten subtil diese biographischen Einflüsse. Die Tschechen hingegen orientierten sich an der Bundesrepublik, wie Petr Uhl ins Gedächtnis rief, nahmen erst spät, in Gestalt der Frauen- und Friedensbewegung, die DDR-Opposition zur Kenntnis. Eine Diskussion über diese Differenz in der politischen Haltung, die auch einen verdeckten Generationenkonflikt bezeichnet, steht den Bürgerrechtlern beider Länder noch aus.

Die Bürgerrechtler trafen sich wieder bei der kontrovers diskutierten Frage, wie mit der realsozialistischen Vergangenheit, wie mit den „Tätern“ umzugehen sei. Ladislav Heydánek, scharfsinnig und witzig wie zu Zeiten der Verfolgung, räsonierte darüber, was Geschichte eigentlich ist. „Sie ist die Summe der Ereignisse, die keinesfalls hätten eintreten dürfen.“ Daraus das Fazit: Wenigstens künftig die Wiederholung der gröbsten Fehler vermeiden. Aber die Beschäftigung mit der Geschichte schließt auch ein, sich mit der eigenen, politischen Verantwortung zu beschäftigen, die eigene Biographie nicht zu schönen. Reflexion statt Restauration.

Zum Schluß, chronologisch gesehen am Anfang der Veranstaltung – die Sprache der Emotionen. Jaroslav Hutka, der Liedermacher der tschechischen Opposition, sang sein „Havličku, Havle“, eine heitere Ballade aus den 70er Jahren, auf den eingekerkerten Dramatiker: „Und laut dem Buchstaben Paragraph und Säbel/sinnier' jetzt über das Recht, Havliček, Havel“. Alle Tschechen sangen mit, auch der erste Feudale der Revolution, Fürst Karel Schwarzenberg. Biermann aber fehlte, und niemand intonierte „Laßt Euch nicht verhärten, in dieser schweren Zeit“. Auch ein Zeichen.