Bremer Taschenlampen-Tango

■ Tanzherbst-Marathon „Short Act Travel“ strapazierte Augen, Nerven und Zwerchfelle

Ein Mann und eine Frau streiten, der Streit wird zum Kampf, der Kampf zur Vergewaltigung. Als beide zuckend am Boden liegen, betritt eine Lichtgestalt in blendendem Weiß die Bühne: Elvis, der King, alt und fett geworden, erkundigt sich persönlich: „Ist alles in Ordnung?“ Mit dieser Szene beginnt die Tanzreise „Short Act Travel“, die die Mitreisenden am Sonnabend des zweiten und letzten Tanzherbst-Wochenendes zu neun quer über die Stadt verteilten Bremer Tanzproduktionen führt.

„Greatest Hits“, eine Choreographie von Isi Voss mit einer Mischung platter und eindrucksvoller Bilder zum Thema „Beziehung“, eröffnet die Rundreise nachmittags um vier im Concordia. Aufgekratzt und gut gelaunt besteigen die insgesamt 99 Zuschauer danach zum ersten Mal den Gelenkbus der BSAG, der sie zu den verschiedenen Spielorten bringen soll. Wie es sich gehört, beginnt die Gruppenreise mit Verhaltensmaßregeln: „Bitte immer die Eintrittskarte bereithalten, zügig ein- und aussteigen und die wenigen Sitzplätze gerecht teilen!“

Vom Concordia geht die Fahrt zum Lagerhaus. In dessen überdachtem Innenhof verteilt sich das Publikum wieder auf wenige Sitz- und viele Stehplätze und friert zum ersten, aber nicht zum letzten Mal an diesem langen Abend. Zur Aufführung kommt das Stück „Madame, Sie sind ein schweber Fall“, das kleine Mädchen beim „Himmel und Hölle-Spiel“ zeigt. Aber diesmal kommen nicht nur die braven Mädchen in den Himmel: An dicken Seilen, gesichert wie Bergsteiger, schaukeln vier Tänzerinnen meterhoch hoch über den Köpfen des Publikums. Einen Raum derart dreidimensional mit Tanz zu füllen ist natürlich schwieriger, als sich dabei nur auf den Bühnenboden zu beschränken, und so bleibt dieses Stück auch über weite Strecken im Spektakulären stecken.

„Als Kind hab ich das wirklich geglaubt, daß Menschen die Wände hochlaufen können“, erinnert sich eine Frau auf dem Rückweg zum Bus, während sich zwei Junkies, unberührt von der vorüberströmenden Menge, im Treppenhaus eine Spritze setzen.

Im leerstehenden Postamt 5 am Bahnhof geht es dann richtig rund. Die kalten Hallen sind der perfekte Hintergrund für die Hip-Hop-Show „Stop and Go and Dance“.

Als die von Autoscheinwerfern ausgeleuchtete Aufführung beginnt, haben die 40 Kinder und Jugendlichen die Zuschauer sofort auf ihrer Seite. Von tanztechnischer Perfektion kann bei ihnen natürlich noch nicht die Rede sein. Zu „Gangsta_s Paradise“ von Coolio aber hat es selbst der Kleinste drauf, die Hände lässig in den Taschen seiner knietief hängenden Hose zu versenken und abzudancen.

Drei Stockwerke höher folgt „Running for Nothing“ – „Hier bitte auf keinen Fall rauchen, denn die Sprinkleranlage trifft uns dann alle!“ Dieses vierte Stück macht die Problematik einer Veranstaltungsreihe mit so großem qualitativem Gefälle deutlich: Die Einzelaufführungen leben entweder von ihrem naiven Charme oder vom tanztechnischen Können. Wer aber den einen verloren und das andere noch nicht erreicht hat, rutscht durchs Raster.

Mittlerweile ist es draußen dunkel geworden. Die eine Hälfte der Reisenden ist froh über die belegten Brote und Thermoskannen im Gepäck, die andere mutmaßt, wie man den Busfahrer wohl am besten dazu bringt, kurz bei Mac Donalds vorzufahren.

Stattdessen werden alle zurückgekarrt ins Concordia, wo unter einem Sternenhimmel schon Leonardo Cruz auf seinem Koffer sitzt. Seinen Auftritt beschreibt das Programmheft als „Hin- und Hergerissensein eines Tänzers zwischen künstlerischem Streben, Homosexualität, kultureller Identität, religiösen Werten, sozialer Anerkennung und der Angst vor Aids und Tod“.

So knüppeldick kommt es zum Glück aber doch nicht. Stattdessen wird hier zum ersten Mal sichtbar, was Körperbeherrschung und Variationsbreite des Ausdrucks bedeuten. Der tosende, von Fußgetrappel begleitete Applaus belohnt den schweißnassen Tänzer für sein Solostück „No Access“. Die Masse strömt wieder zum Bus.

Im Innenhof des Gröpelinger Lichthauses sind dann die „Blaumeier“ mit ihrem „Wäschestück“ dran, in dem sich eine Wäschefrau zum König aufschwingt. „Alle unter Wasser, na los!“ lautet ihr herrisches Kommando. In dem Chaos, das daraufhin entsteht, sind die behinderten von den nichtbehinderten Schauspielern nicht mehr zu unterscheiden. Das schönste an diesem Stück kommt aber erst nach seinem Ende, als sich der König nicht ganz von seiner Rolle lösen mag und jeden Mitspieler mit sanfter Gewalt nochmal zum Einzelapplaus auf die Bühne zerrt.

Je länger der Abend, desto besser das Gespür des Zuschauers für unnötige Längen. Ganz frei davon sind nur die beiden Aufführungen Nummer sieben und Nummer acht: In der Kulturwerkstatt Westend spielt Claudia Hanfgarn eine Frau in der Angstlust ihres „Aufbruchs“ und beherrscht dabei, im Gegensatz zu den meisten anderen Akteuren, auch ein langsameres Tempo. Danach zeigt Helge Letonja sein Solo „What“: Ein Pas de deux mit einem Schaufensterpuppen-Arm, der sich im Laufe von kaum zehn Minuten vom leblosen Objekt zum souveränen Tanz-Partner entwickelt. Konsequenterweise erhält Letonja zum Applaus dann auch nicht wie alle anderen eine Rose, sondern zwei. Nach dieser achten Aufführung des Abends hat ein Teil des Publikums vor Hunger und Kälte kapituliert. Die im Bus Verbliebenen sind sich näher gekommen. Alles duzt sich, von Kartenkontrolle ist längst keine Rede mehr.

Die letzte Vorstellung findet kurz vor Mitternacht im Marmorsaal der HAG-Fabrik im Holzhafen statt. Während draußen der Regen auf die verlassenen Dächer trommelt, steigt drinnen der „Taschenlampen-Tango“: Im Stockdunkeln ist nichts zu sehen außer den Lichtkreisen, die die an den Füßen der Tänzer befestigten Taschenlampen ziehen. Das Publikum klatscht begeistert, nach soviel Kunst wahrscheinlich froh über einen ordentlichen Paartanz.

Froh über seinen Feierabend ist auch der Rettungssanitäter, der – so will es irgendeine Vorschrift – zwei Tragetaschen voll mit Pflastern, Tabletten und Beatmungsgerät von einer Vorstellung zur anderen geschleppt hat. Einige Aufführungen haben auch ihm, dem bekennenden Kulturmuffel, ganz gut gefallen. Im Großen und Ganzen reicht es ihm jetzt aber, mindestens für den Rest des Jahres. Anja Robert