Weiter abwärts in Richtung Talsohle

■ Seit 1990 hat Berlin 200.000 Arbeitsplätze in der Industrie verloren, und ein Ende der Entwicklung ist nicht absehbar. Die EU betrachtet auch die Westbezirke inzwischen als so förderungswürdig wie Sizilien

Die Vernichtung von Arbeitsplätzen in der Berliner Industrie geht rasant weiter. Gerade gab die Spandauer Firma Graphischer Maschinenbau GmbH bekannt, daß das Werk im Sommer 1997 komplett zugemacht wird. Wieder stehen 150 Leute auf der Straße. Ihre Aussichten, nach der Schließung ihres Werkes einen neuen Arbeitsplatz zu finden, tendieren gegen null. Für den Eigentümer der Druckmaschinenfabrik, den Würzburger Konzern Koenig& Bauer-Albert AG, geht das Wirtschaftsleben dagegen weiter. Demontagekolonnen werden die Maschinen in Spandau abbauen und an andere Orte verfrachten. Auch dort läßt sich produzieren – allerdings billiger.

Der Vorgang ist kein Einzelfall: Gegen Ende des Jahres wird die Werkzeugmaschinenfabrik Niles in Weißensee 80 Prozent ihrer früheren Beschäftigten entlassen haben. Die Betriebsräte des Großkonzerns Siemens befürchten, daß 1997 rund 1.000 ArbeiterInnen eingespart werden.

Die Deindustrialisierung der einstigen Industriemetropole Berlin hat schon seit geraumer Zeit dramatische Formen angenommen. Während 1990 noch rund 380.000 Menschen in der Berliner Industrie arbeiteten, sind es gegenwärtig weniger als 180.000. Damit sind in den letzten sieben Jahren in der Stadt 200.000 Arbeitsplätze vernichtet worden – eine Summe, vergleichbar der Einwohnerzahl einer großen deutschen Stadt wie Kassel oder Freiburg. Selbst in der Bankenmetropole Frankfurt am Main arbeiten mittlerweile im Verhältnis zur Einwohnerzahl doppelt so viele IndustriearbeiterInnen wie in Berlin. Die nebenstehende Liste von Werksschließungen, Auslagerungen, Rationalisierung und Konkursen in den vergangenen beiden Jahren ließe sich um viele Firmen verlängern.

Und auch für die Zukunft kann Wirtschaftssenator Elmar Pieroth (CDU) keine Entwarnung geben. „Eine Stabilisierung des Konjunkturgeschehens zeichnet sich kaum ab“, heißt es in seinem aktuellen Bericht der Wirtschaftsverwaltung zur Lage der Stadt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) geht bei einer Untersuchung der wirtschaftlichen Entwicklung Berlins davon aus, daß weiter Jahr für Jahr Tausende von Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe vernichtet werden. Ob die Hauptstadt nach 2010 nur noch 100.000 Industriejobs oder sogar noch weniger aufweisen wird, darum streiten sich bislang die Experten.

Das alte Westberlin hat unter dem Schock dieser Deindustrialisierung besonders zu leiden. Dort liegt die Arbeitslosigkeit mit 14,3 Prozent mittlerweile höher als in den Ostbezirken (12,8 Prozent). Im Westen haben 151.000 Menschen keine ausreichende Beschäftigung, in Ostberlin sind es 82.000.

Angesichts dieser Entwicklung scheint sich die Kommission der Europäischen Union jetzt entschlossen zu haben, auch das alte Westberlin in die Wirtschaftsförderung für besonders notleidende Gebiete einzubeziehen. Bisher waren nur die Ostbezirke und die östlichen Länder in den Genuß der höheren Subventionen aus den Töpfen der Europäischen Union gekommen. Zumindest förderungstechnisch stehen Wilmersdorf und Wedding jetzt auf einer Stufe mit Sizilien und Andalusien. Hannes Koch