: Die Oper als kollektiver Traum
„Kulturwahn“: Worum es in der Frankfurter Kulturpolitik-Debatte wirklich geht ■ Von Micha Brumlik
„Frankfurt darf nicht“, so forderte die Oberbürgermeisterin dieser Stadt kürzlich, „zur Kultur- Unstadt mutieren.“ Dieser Satz entfuhr dem Stadtoberhaupt, als es vor einem Parteitag der CDU begründen wollte, warum es der glücklosen sozialdemokratischen Kulturdezernentin Linda Reisch die prestigeträchtige Zuständigkeit über die Bühnen entzog. Dem sprachlichen Unsinn dieser Äußerung entspricht der Wahn, der sich von den Brettern, die die Welt bedeuten, auf Frankfurts politisches Parkett begeben hat und dort zum Auftakt einer Epidemie im ganzen Land werden könnte.
„Wahn“ – kein anderer Begriff als dieser vermag genauer einzufangen, worum es in der ehemals Freien Reichstadt geht: „Wahn! Wahn! / Überall Wahn! / Wohin ich forschend blick' / in Stadt und Weltchronik / den Grund mir aufzufinden, / warum gar bis aufs Blut / die Leut' sich quälen und schinden / in unnütz toller Wut? Hat keiner Lohn davon: / in Flucht geschlagen / wähnt er zu jagen; / hört nicht sein eigen Schmerzgekreisch / wähnt Lust sich zu erzeigen! – / Wer gibt den Namen an? / 's ist halt der alte Wahn...“
Die Worte, die Richard Wagner in den „Meistersingern“, nach einer wüsten Prügelnacht, Hans Sachs, einem Kulturpolitiker der Freien Reichsstadt Nürnberg in den Mund legt, liefern den Schlüssel auch zur befremdlichen Frankfurter Szene. Was steht hinter dem beschämenden Umstand, daß sich zwei erwachsene Frauen in der Öffentlichkeit über hastig versandte Faxe wechselseitig des Vorwurfs zeihen, das geistige Urheberrecht für Expertenkommissionen gestohlen zu haben? Warum widerfährt es Generalmusikdirektoren und Intendanten, sich zum Verdruß des Publikums vor der Presse schlechtzumachen und sich um läppische Kosten für ein Leporello oder die Verlängerung der Stelle eines Chorassistenten zu zanken? Was bringt einen bekannten Schauspielintendanten dazu, in die Haut einiger von ihm inszenierten Figuren aus der Wiener Vorstadt zu schlüpfen und eine Geschäftigkeit an den Tag zu legen, die kein Nestroy hätte schöner ersinnen können? Am Ende triumphieren die Advokaten: Es ist kein Gerücht, daß die Intendanten zu einschlägigen Dienstbesprechungen immer häufiger in Begleitung ihrer Anwälte erscheinen.
Die Liebe zur Kunst in Zeiten der Spar-Ära
Die Fakten sind bekannt: Die städtischen Bühnen Frankfurt, bestehend aus den getrennten Sparten Oper, Ballett, Schauspiel und TAT, erhalten 1996 insgesamt einen Nettozuschuß in Höhe von etwa 150 Millionen Mark und produzieren dafür zusammen etwa 400 Vorstellungen, denen etwa 245.000 einzelne Besuche bei einer durchschnittlichen Auslastung der einzelnen Bühnen von 65 Prozent entsprechen. In der Oper wurden ausweislich des Haushaltsplans 1996 bei einem Nettozuschuß von 57 Millionen bei etwa hundert Vorstellungen 130.000 Plätze, im Schauspiel bei etwa 30 Millionen Mark und etwa 230 Vorstellungen etwa 95.000 Plätze, im Ballett bei etwa elf Millionen Mark mit 37 Aufführungen 35.000 Plätze und im TAT bei einem Zuschuß von 6,6 Millionen und 72 Aufführungen etwa 10.000 Plätze vergeben. Das ist, darin scheint Einigkeit zu bestehen, fürs Geld der Steuerzahler zuwenig – insbesondere dann, wenn die Gelder für künftige Spielzeiten nicht gesichert sind.
Daß für den quantitativen Niedergang der Oper die sorgenlose Ausgabenpolitik des ehemaligen Kulurdezernenten Hoffmann ebenso verantwortlich ist wie der von ihm und den zuständigen Kulturpolitikern gebilligte Abbau des Opernensembles zugunsten internationaler Gastsänger, ist bekannt; daß diese strukturellen Schwächen durch die überstürzte Absenkung des Kulturhaushaltes zu Beginn der zweiten rot-grünen Legislaturperiode um 50 Millionen Mark und die Erstellung eines letztlich unhaltbaren Konsolidierungsprogramms durch den Intendanten der Oper die Risiken unbeherrschbar wurden, war ebenso absehbar. Außerdem trifft es selbstverständlich zu, daß die mangelnde Ausgabendisziplin des Generalmusikdirektors die Existenz aller anderen Sparten bedroht. Nimmt man schließlich zur Kenntnis, daß die von dem ehemaligen Personaldezernenten und späteren Oberbürgermeister von Schoeler geschlossenen Verträge den Frankfurter Intendanten eine Position zuweisen, die sie einerseits jener politischen Maßgabe entzieht, sie aber andererseits trotz getrennter Sparten in einen gemeinsamen zentralen Betrieb zusammenzwingt, so wird verständlich, warum sie erst gegeneinander, dann miteinander aus diesem Gefängis ausbrechen und ihr Heil in der vermeintlichen Freiheit eigener GmbHs suchen.
Unter diesen Bedingungen geraten Intendanten und Politikerinnen deshalb soweit außer sich und ihr Niveau, weil sie in ihrer verzweifelten Liebe zu ihrer Kunst gezwungen sind, in den Etats der Kollegen oder in Instituten, die sie geringer schätzen, zu wildern.
Wer die Kunst, die er oder sie betreibt, liebt, kann dann kaum anders, als seine schlechtesten menschlichen Seiten zu entwickeln, als Mißgunst, Lüge, Haß und Heuchelei zu kultivieren. Kunst, Bühnenkunst zumal, die der Wirklichkeit in dramatischer Weise ihren Spiegel entgegenhält, fordert von denen, die heute öffentlich für sie eintreten, keinen geringeren Preis, als alles, worauf es dieser Kunst ankommt, zu dementieren und zu demontieren. Wo die Mittel für das Drama auf der Bühne schrumpfen, wird die Wirklichkeit jenseits des Theaters zur Farce.
Die traurige Posse, jener Wahn, an dessen Fäden die Frankfurter Kulturpolitiker, Künstler und Kritiker zappeln und in den sie sich bei dem Schritt, ihm zu entfliehen, nur noch tiefer verstricken, stellt die Bürgerschaften der deutschen Städte vor die entscheidende Frage. Sie stehen vor der Frage, ob sie auch künftig bereit sein werden, dem Wahn, und das heißt den Träumen und Wünschen, dem Schmerz und der Liebe, den enttäuschten Hoffnungen und erwarteten Niederlagen, Begehren und Tod die Möglichkeit zu geben, stellvertretend, geformt und öffentlich – und das heißt als Kunst – aufzutreten. Die Künste, das sind die von einzelnen willentlich geformten und inszenierten Wunsch- und Alpträume, die in einer Gesellschaft umherspuken. In seinem Passagenwerk ist Walter Benjamin der Vermutung nachgegangen, daß im Inneren der Kollektive Architekten, Moden, ja selbst das Wetter dem entsprächen, was im einzelnen Individuum Organempfindungen, Krankheitsgefühle oder eben auch Gesundheit darstellten: „Und sie sind“, so schließt Benjamin seine Überlegungen, „solange sie in der unbewußten, ungeformten Traumgestalt verharren, genausogut Naturvorgänge, wie der Verdauungsprozeß, die Atmung etc. Sie stehen im Kreislauf des ewig Selbigen, bis das Kollektivum sich ihrer in der Politik bemächtigt und Geschichte aus ihnen wird.“ Eine Chance, womöglich die einzige Chance zu dieser Bemächtigung ist die Kunst. In ihren Werken tritt das kollektive Unbewußte einer Gesellschaft deutlich und als solches zu Tage.
In der Frankfurter Posse schlägt sich der Streit dieser Gesellschaft darüber nieder, ob sie sich auch künftig noch das reflektierte Träumen in Form edler Bühnenkunst erlauben oder verbieten will. Die Bitterkeit und Schärfe, die zwischen jenen herrscht, die – wie die Intendanten von Schauspiel und Oper – zu Kompromissen mit der keineswegs besonders harten Realität von Bilanzen und Finanzen bereit sind oder aber – wie der Frankfurter GMD Sylvain Cambreling – in der Manier des ästhetischen Fundamentalisten auch dann auf der achten Hauptprobe bestehen, wenn die Frequenz der Vorstellungen deshalb kontinuierlich absinkt, ist kein Ausdruck persönlichen Ungenügens.
Die Oper – ein anderes Realitätsprinzip
Es ist alles andere als ein Zufall, daß die Rolle des ästhetischen Fundamentalisten in diesem Stück dem Generalmusikdirektor und damit der Oper zufällt. Denn wie keine andere Kunstform stellt die Oper oder das Musiktheater – dem es seit seiner Erfindung vor etwa 400 Jahren stets um eine Erneuerung und Aktualisierung der kollektiv kathartischen griechischen Tragödie ging – das ebenso Unzeitgemäße wie Notwendige dar: eine Kunstform, die als technisch nur begrenzt modernisierbarer Manufakturbetriebe immer darauf setzte, in der Verschmelzung von Musik – der Sprache der Gefühle – und Drama dem Wahn eine nachvollziehbare, gemeinsam erlebbare und besprechbare Form zu geben. Stets stand die Oper in ihrer Umständlichkeit, ihrer gestreckten Zeit, ihren Launen, ihrem Pomp, ihrer Verschwendung und ihrem Überborden für eine Haltung, die jedem nüchternen Wirtschaftsgebaren entgegenstand. Sie stand und steht für ein anderes Realitätsprinzip, dem es allein auf den unter allen Umständen wahrhaftigen und deshalb mehrdimensionalen Ausdruck menschlicher Leidenschaften ankommt, und ist daher auf Gönner angewiesen, die es als demokratischen Souverän kaum geben kann. Wer weiß, wie es um das Werk Wagners bestellt wäre, hätte er nicht den wahnsinnigen König Ludwig II. gefunden?
Deshalb gehen alle gutgemeinten Abspannversuche und abgeklärt pragmatischen Hinweise, daß es anderswo doch billiger und überhaupt anders ginge, ebenso an der Sache vorbei wie der von hilflosen Politikern betriebene Versuch, das Drama durch Hinzuziehung von Haushalts-, Bühnenrechts- oder Unternehmensberatungsexperten zu entschärfen. Das, worum es bei der Frankfurter Auseinandersetzung in Wahrheit geht, ist weder mit dem Neuaufbau eines Ensembles, der Einführung einer GmbH, noch mit irgendwelchen Novellen zu Haustarifverträgen des Orchesters oder einer Verkleinerung des Chors zu lösen, obwohl all dies sinnvoll sein mag. Im Frankfurter Konflikt, der in Wahrheit ein Streit um die Oper als Prinzip und damit um den institutionalisierten Restbestand einer anderen als der ökonomischen Vernunft ist, stehen tiefgreifende, prinzipielle Haltungen gegeneinander, die zwar moderierbar, aber nicht versöhnbar sind.
Wenn diese These zustimmungsfähig wird, wird man den unappetitlich wirkenden Schlagabtausch in der Frankfurter Kulturpolitik nachsichtiger beurteilen und bemerken, daß hier stellvertretend für die ganze Republik etwas geschieht, das einen tiefgreifenden Wandel anzeigt: Die Oper wird als selbstverständliches Erbe einer absolutistischen und bildungsbürgerlichen Musikkultur früher oder später verschwinden und – wenn überhaupt – als Spektakel, Festspiel, „Event“ oder als nostalgische Erinnerung, als ferner Klang überdauern.
Diese Form des bewußten und kollektiven Träumens wird damit aus der Mitte unserer Stadtgesellschaften ausgetrieben – ob überhaupt etwas und was an seine Stelle treten wird, wissen wir nicht. Aber wir kennen Beispiele. Entwickelte Gesellschaften der Gegenwart können durchaus – wie etwa in weiten, keineswegs allen Teilen der USA – auf die öffentlich finanzierte, künstlerische Gestaltung ihrer kollekiven Wunsch- und Alpträume verzichten. Daß das gesellschaftliche Unbewußte damit weder zu existieren noch gar zu wirken aufhört, sondern sich zu seiner Formung anderer Kanäle, in Film und Fernsehen, in Politik und Kommerz sucht, ist offensichtlich – mitsamt allen ebenfalls bekannten Folgen...
Die Premiere von Franz Lehárs „Lustiger Witwe“ in der Frankfurter Oper, inszeniert von Peter Mussbach, dirigiert von Sylvain Cambreling, zeigte in fahlen Farben und befremdenden Art- deco-Kulissen eine Gesellschaft, die im Rausch bittersüßer Klänge ihrem Ende entgegentaumelt. Am Ende des zweiten Akts wird ein gehörnter Ehemann, der seine Gattin beinahe in flagranti erwischt hätte, im letzten Augenblick von der lustigen Witwe getäuscht. Dann singt er, erleichtert und in alle Zukunft betrogen: „Der Wahn ist mir nun ganz benommen.“
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