Dem Vormenschen auf der Spur

Neuer Hominidenfund aus Malawi: Darmstädter Paläoanthropologen entdeckten ein 2,4 Millionen Jahre altes Oberkieferfragment. Es ist der erste Australopithecus-Fund in dieser Region  ■ Von Stefan Kieß

„Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte“, so prophezeite es einst Charles Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie. Heute, fast 140 Jahre danach, ist das Szenario der biologischen Menschwerdung keineswegs gleichmäßig hell erleuchtet. Zwar wurden zahlreiche spektakuläre Funde gemacht und enormes Wissen zusammengetragen. Wichtige Fragen bezüglich Zeit und Ort konnten geklärt werden: Die Abspaltung der vormenschlichen Hominiden von den Menschenaffen fand vor fünf bis sieben Millionen Jahren statt und der Mensch entstand in den ostafrikanischen Savannen.

Seit dem tummelten sich dort etwa ein Dutzend bisher bekannte Hominiden-Arten der Gattungen Australopithecus und Homo. Einzig überlebende Form ist der „anatomisch moderne Mensch“, Homo sapiens sapiens, der schließlich alle Erdteile bevölkern konnte. Was jedoch die Verwandtschaftsverhältnisse der afrikanischen frühen Hominiden angeht und die Frage, wer von wem abstammte oder wohin wanderte, muß noch viel Licht ins Dunkel gebracht werden.

Dieser Herausforderung stellt sich seit mehreren Jahren hartnäckig und erfolgreich eine Forschungsgruppe vom Hessischen Landesmuseum in Darmstadt um den Paläoanthropologen Friedemann Schrenk. Ihre Feldforschung betreiben sie vor allem im südostafrikanischen Malawi. Dort beziehen sie jedes Jahr für etwa zwei Monate ein Camp am Malawi-See und treiben das Hominid Corridor Research Project (HCRP) voran. Unterstützt durch viele einheimische Hilfskräfte suchen die Wissenschaftler während ausgedehnter Geländebegehungen Fossilien, schlämmen und reinigen Fundmaterial, ordnen es ausgestorbenen Tierarten zu und rekonstruieren Evolutionsszenarien. 1991 gelang Friedemann Schrenk und seinem New Yorker Kollegen Tim Bromage ein spektakulärer Fund: In Uraha im Norden Malawis bargen sie den Unterkiefer eines Homo rudolfensis, ein 2,4 Millionen Jahre alter, frühhominider Urmensch. Friedemann Schrenk glaubt, daß die Abstammungslinie vom Vormenschen Australopithecus afarensis („Lucy“) über den Urmenschen Homo rudolfensis weiter zum Homo erectus und Homo sapiens verlief. Andere Forscher sehen dagegen den schon länger bekannten Homo habilis als Vorläufer an.

Der Unterkiefer mit der Bezeichnung UR 501 war das erste Zeugnis früher Hominiden in dieser Region und überbrückte eine große geographische Lücke in der Kette der Fundorte: Aus den ostafrikanischen Ländern Äthiopien, Kenia und Tansania sind zahlreiche Funde der Gattungen Australopithecus und Homo bekannt, ebenso aus Südafrika. Doch erst mit dem Unterkiefer des Homo rudolfensis aus Malawi konnte die Hypothese bestätigt werden, daß Wanderungsbewegungen der Hominiden zwischen Ost- und Südafrika stattgefunden hatten und ein „Hominidenkorridor“ existierte, der auch am Malawi-See entlanglief.

Nun vermelden die Mitarbeiter des HCRP erneut einen spektakulären Erfolg: Bei einer Grabung im August 1996 stießen drei Darmstädter Wissenschaftler in Malema, 35 Kilometer von der Fundstelle des UR 501 entfernt, auf ein frühhominides Oberkieferfragment mit zwei Zähnen. Das Alter konnten sie auf etwa 2,4 Millionen Jahre bestimmen. Die Forscher sind sich sicher, das neue Fundstück RC 911 dem Vormenschen Australopithecus zuordnen zu können: „RC 911 weist Backenzähne auf, die wesentlich größer sind als die von Homo rudolfensis“, meint der Biologe Rainer Abel vom Grabungsteam. Seine Kollegen, die Paläontologen Ottmar Kullmer und Oliver Sandrock vermuten, daß das Kieferfragment zu einem Australopithecus boisei, einem besonders robusten Vormenschen, gehörte.

Der neue Fund belegt eine Koexistenz: Demnach lebten beide Arten vor 2,4 Millionen Jahren nebeneinander am Malawi-See. Eine Nahrungskonkurrenz zwischen den Arten spielte wohl kaum eine Rolle: Die frühen Vertreter der Gattung Homo integrierten Fleisch in ihre pflanzliche Nahrung und wurden zu Allesfressern. Damit konnten sie flexibel auf das jahreszeitlich wechselnde Nahrungsangebot in der afrikanischen Savanne reagieren. Sie erlangten so einen entscheidenden Selektionsvorteil, der schließlich ihr Überleben sicherte. Dagegen dienten die großflächigen Backenzähne der robusten Australopitheciden dem Zermahlen großer Mengen energiearmer Pflanzennahrung. Diese vegetarische Spezialisierung erwies sich als evolutionärer Nachteil und war einer der Gründe für ihr späteres Aussterben.

Ein genaueres Bild vom Leben der frühen Hominiden am Malawi- See erhoffen sich die Darmstädter Wissenschaftler des HCRP-Teams von den laufenden Zahnschmelzuntersuchungen des neuen Oberkieferfragments RC 911. Weitere Erkenntnisse erwarten sie auch von der in Malema gefundenen Begleitfauna: Säugetierfossilien urzeitlicher Antilopen, Pferde, Elefanten und Giraffen sowie Krokodile und Fische. Für das nächste Jahr haben sich die Forscher eine Großgrabung am Malawi-See vorgenommen. Darüber hinaus planen sie die Gründung einer Stiftung: Die URAHA-Stiftung soll die interdisziplinäre und ganzheitliche Erforschung der Lebensräume früher Hominiden finanziell unterstützen. Besonderer Wert wird dabei der Integration afrikanischer Wissenschaftler in vielversprechende paläoanthropologische Projekte beigemessen.