Ein echter Freiraum, der polarisiert

■ Das Tacheles: ein Kunsthaus mit allen Vor- und Nachteilen, die das Ignorieren von gängigen Konventionen mit sich bringt

Berlins Kultursenator war sich seiner Sache sicher: Das Tacheles, so meinte vor Jahren Ulrich Roloff-Momin, der parteilose Vorgänger von Peter Radunski (CDU), sei aus der Berliner Kulturlandschaft „nicht mehr wegzudenken“. Mit diesem Urteil stand er schon damals in den Augen vieler alleine da. Das Kunsthaus Tacheles, wie seine Macher die pittoreske Ruine getauft hatten, mochte gut sein für Touristen. Den Berlinern war das, was in den Ateliers, dem Theatersaal und auf den zu Galerien umfunktionierten Gängen stattfand, irgendwie zu dilettantisch. Vielleicht auch ein bißchen zu altmodisch – zu sehr Punk, wo doch längst Techno herrschte.

Die Kritik hatte ja auch oft ihre Berechtigung: Die Skulpturen, die die Stahlbildhauer unter martialischem Schweißen und Sägen herstellten, waren Schnee von gestern, Bilder hatten häufig das Verfallsdatum bereits im Moment ihres Entstehens überschritten, Theateraufführungen erschöpften sich vielfach im Effekt.

Strafverschärfend kam hinzu, daß die Leute vom Tacheles eine Zeitlang ordentlich mit ABM-Stellen bedacht wurden. Inzwischen gibt es zwar nur noch Geld für einzelne Projekte, aber der Makel, vordergründig den wilden Mann zu spielen und hintenrum Staatsknete zu kassieren, blieb haften. So passierte es, daß das Tacheles immer öfter von immer mehr Menschen gründlich mißverstanden wurde. Denn obwohl mittlerweile selbst eine senatseigene Marketing Gesellschaft in aller Welt mit dem schrillen Kunsthaus Werbung machte, ein Vorzeigeobjekt war das Tacheles noch nie.

Genau darin liegt seine besondere Qualität. Man muß das Tacheles nicht mögen. Aber respektieren sollte man es. Kalkuliertes Wohlverhalten und normierte Freizeitgestaltung darf hier niemand erwarten. Das Haus ist ein echter Freiraum, mit allen Vor- und Nachteilen, die das Ignorieren von künstlerischen und sozialen Konventionen mit sich bringt. Das mag man Autismus nennen, man kann aber auch Unabhängigkeit dazu sagen. Von deren Auswirkungen profitiert nicht nur das Tacheles selber. Es kommt auch den umliegenden Theatern, Galerien und Kunstvereinen zugute, für die es zu einer Art Lackmustest geworden ist. Das Tacheles polarisiert und ermöglicht dadurch dem Rest, seine Positionen um so genauer zu formulieren.

Daran wird sich, den Fortbestand des Tacheles vorausgesetzt, so schnell auch nichts ändern. Die Schmuddelkinder werden Schmuddelkinder bleiben. Und das ist gut so. Wer die Szene aufmerksam beobachtet, die sich in der Spandauer Vorstadt etabliert hat, ahnt, daß die Gegend rund um die Oranienburger Straße in Berlins Mitte das Tacheles noch bitter nötig haben wird. Schon der Abwechslung wegen. Ulrich Clewing