Marshall-Plan des Geistes: Eine Buchreihe wird 20

■ Ambitioniert, solide, gut zu lesen, preiswert und hoffentlich mit Zukunft: Die Edition „Zeit des Nationalsozialismus“ in der Schwarzen Reihe des Fischer Verlages

Eine eigene Feier zum Jubiläum ist nicht angesagt, aber öffentlich würdigen muß man das Ereignis: „Die Zeit des Nationalsozialismus“, eine von Walter H. Pehle betreute Buchreihe des Fischer Taschenbuch Verlages in Frankfurt am Main, wird 20 Jahre alt. Was im Herbst 1976 mit der Arbeit an der Neuedition des „Nürnberger Tagebuchs“ von G.M. Gilbert – einer Sammlung von Interviews mit den in Nürnberg angeklagten Kriegsverbrechern – begann, ist in zwei Jahrzehnten zur wohl umfangreichsten und wichtigsten Buchreihe über dieses Thema gewachsen. An öffentlichem Lob herrscht denn auch kein Mangel: Die Zeit nannte das Projekt einen „mächtigen Sperriegel gegen das Vergessen und Verdrängen“, der international führende Holocaust-Forscher Raul Hilberg gar einen „Triumph der Aufklärung“, und ein viel gelesenes Stadtmagazin erklärte sie schlichtweg zur „Bibliothek gegen das Vergessen“.

Ein editorisches Unternehmen also, das Vergleiche nicht zu scheuen braucht. Dieser Erfolg war keineswegs vorgezeichnet. „Bücher über den Nationalsozialismus gibt es mehr als genug“, so kennzeichnet Pehle die Stimmung bei Buchhandel und Verlagen, als er 1976 seine erste Stelle als Lektor bei Fischer antrat. Noch wenige Jahre zuvor hatten die Revolten der 68er ein bis dahin beispielloses Interesse am Thema geweckt – erst jetzt wurden zum Beispiel die im Exil entstandenen Arbeiten entdeckt und übersetzt. Doch der Flut von Neuerscheinungen über den Nationalsozialismus war Mitte der 70er Jahre die Ebbe auf dem Buchmarkt gefolgt – „Faschismusanalysen“ waren nicht mehr gefragt, und viele Bücher landeten im Ramsch.

Wenn die Reihe dennoch gerade damals auf den Weg gebracht werden konnte, so ist dies nicht zuletzt dem Schock zu verdanken, den ein Lehrer namens Dieter Boßmann mit seinem Buch „Was ich über Adolf Hitler gehört habe“ (selbst einer der ersten Titel der Reihe) ausgelöst hatte. Boßmann hatte nichts weiter getan, als „Auszüge aus Schüleraufsätzen“ zu zitieren. Was da jedoch über Hitler und den Nationalsozialismus zusammenfabuliert wurde, offenbarte nicht nur die „Folgen eines Tabus“, sondern eine mittlere Bildungskatastrophe. Für die Konzeption der Reihe freilich wies diese den richtigen Weg: Man wollte Bücher produzieren, die an ein breites Publikum, an Schüler, Studierende, Lehrer und andere Multiplikatoren adressiert und zu einem erschwinglichen Preis zu haben waren. Zugleich tat man gut daran, abgehobene und fleischlose „Theoriedebatten“ anderen zu überlassen.

Monographien wie das dreibändige Werk von Ernst Klee über die „Euthanasie im NS-Staat“, das die erschreckende Kontinuität der Karrieren von Tätern und Verantwortlichen aufzeigte, Raul Hilbergs „Täter, Opfer, Zuschauer“, eine Weiterführung seines Standardwerks „Die Vernichtung der europäischen Juden“, oder auch „Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg“ stehen für eine Konzeption, welche die solide Aufarbeitung bisher vernachlässigter oder tabuisierter Themenbereiche in den Mittelpunkt stellt.

Die Schwarze Reihe – wie das Unternehmen wegen seiner unverwechselbaren schwarzweißen Cover bald genannt wurde – hat es, wie Pehle sagt, bis Ende der 80er Jahre „wegen vieler Aversionen bei Handel und Publikum nicht leicht gehabt“. Verbreitet sei der Wunsch gewesen, „endlich Ruhe zu haben und den berühmten ,Schlußstrich‘ zu ziehen“. Ein solcher „Schlußstrich“ aber hätte auch die Geschichte des eigenen Hauses annulliert: Ungezählte Bücher von Autoren des S. Fischer Verlages wurden am 10. Mai 1933 verbrannt, der Verlag selbst mußte 1936 – ohne daß man auf völlige Konfrontation zum NS-Regime gegangen wäre – zunächst nach Wien, 1938 nach Stockholm und zwei Jahre später in die USA ausweichen. Am 1. Juni 1948 hatte dort Gottfried Bermann Fischer, Schwiegersohn des Verlagsgründers Samuel Fischer, bei einem Vortrag an der Columbia University auf das Fehlen antinazistischer Literatur in Deutschland aufmerksam gemacht und die Unkenntnis der Jugend über die Vorgänge seit 1933 beklagt. Zur Abhilfe forderte er einen „Marshall- Plan des Geistes“ – auch in dieser Tradition der eigenen Geschichte sieht der Verlag die Schwarze Reihe verortet.

Seit 1991 hat Wolfgang Benz diese um die „Lebensbilder. Jüdische Zeugnisse und Erinnerungen“ erweitert – Berichte und Biographien von „kleinen Leuten des Exils“, die den Blick frei machen auf den Alltag von Verfolgung und Emigration, von unterlassener und geleisteter Hilfe. „Vor der Deportation“ heißt eines dieser Bücher. Es veröffentlicht Briefe aus der Zeit zwischen Januar 1939 und Dezember 1942, die eine jüdische Mutter aus Berlin an ihre beiden in einem Internat am Genfer See untergebrachten Töchter geschrieben hat, bevor sie sich am 12. März 1943 auf dem Transport nach Auschwitz das Leben nahm.

Im November erscheint mit „,Maschinengewehre hinter der Front‘ – Eine Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie“ der 120. Band der Reihe, die inzwischen auch wirtschaftlich zu den Aktivposten des Verlages zählt. Dieser Erfolg setzt all jene ins Unrecht, die von einer „Erschöpfung des Themas“ reden – oder insgeheim darauf spekulieren. „Lesbare Bücher über die Zeit des Nationalsozialismus helfen, rechtsextremem Denken und Handeln vorzubeugen“, davon ist der Herausgeber überzeugt. Er weiß aber auch, daß seine Bücher gerade von „Menschen mit rechtsextremem Persönlichkeitsprofil“ nicht gelesen werden. Daran ist wohl nichts zu ändern.

Doch die Tatsache, daß viele Bücher der Reihe bereits mehrere Auflagen erlebt haben, daß zum Beispiel die „Lebensbilder“ oft in Klassensatzstärke bestellt werden, macht Mut. Sie läßt hoffen, daß Bücher wie diese auch fernerhin „Fragen entfesseln, das kollektive Gedächtnis wachhalten, das vollends abzuschaffen die heutige Gesellschaft keinen Aufwand scheut“ (Günter Busch). Werner Trapp