Auferstanden aus Ruinen

Der Osten ist mehr als trotzig. Er ist das Zentrum der Veränderungen. Hier schimmert die Zukunft des neuen Deutschlands hervor. Bücher von Helmut Böttiger und Daniela Dahn  ■ Von Jens König

Der Westen fühlt sich noch ganz sicher. Er weiß nicht, daß es ihn schon nicht mehr gibt. Das ganze Land ist bereits Osten. Mehr noch: Der Osten hat den Westen ruiniert. Er hat sein Geld genommen, ist aber ganz der alte geblieben. „Die DDR ist nicht untergegangen“, schreibt Helmut Böttiger. „Sie hat nur einen weiteren Milliardenkredit erhalten.“ Was für eine Aussicht!

Sage ja keiner, das klinge nach Nostalgie, nach Ostmuff und nach PDS. Der Osten hört sich anders an. Der überprüft immer noch, was aus den Versprechungen des Westens geworden ist, aber er ist darüber nicht mehr enttäuscht. Er ist jetzt vor allem eines: trotzig. Helmut Böttiger ist der Zeit voraus, in der alle danach suchen, was hier zusammenwächst, weil es zusammengehört. Bei ihm löst sich alles auf – um sich dann aber auf geheimnisvolle Weise doch wieder zusammenzufügen. „Da geht etwas ineinander über, was so nie als zusammengehörig gedacht war.“

Böttiger (40) ist Kulturkorrespondent der Frankfurter Rundschau in Berlin, und er findet die von ihm beschriebenen „Aufbrüche einer neuen Kultur“ – so der Untertitel seines Buches – vor allem in der Hauptstadt. Tief im Westen wissen die Menschen noch nichts von ihrem Glück. Böttiger sucht mit Vorliebe die Orte auf, wo sich die Veränderungen am radikalsten vollziehen – oder eben auch nicht vollziehen: in Kreuzberg und in Mitte, in Charlottenburg und in Prenzlauer Berg. Er beschreibt sie als Laboratorien, in denen an einem neuen Lebensgefühl experimentiert wird: ob Volksbühne oder die Bar jeder Vernunft, ob PDS und die neue Off-Szene. Er flaniert durch die Friedrichstraße, in der der Pariser Chic mit dem herben Charme des ihn umgebenden Ostens konkurriert. Er fängt die Stimmung bei einem Empfang des Rotbuch Verlages so genau ein wie die bei einem Fest in der Kulturbrauerei: Im Westen steht das Spielerische im Vordergrund, das Anekdotische, die Ironie – „das scheint eine Kulturleistung des Westens zu sein“. Im Osten finden melancholische Selbstvergewisserungen statt, man sagt nicht, was man denkt, man assoziiert – wie früher. „Eine tragische und eine ironische Gesellschaft stoßen aufeinander. Eine ernste und tiefe auf der einen Seite, und auf der anderen eine, die vor allem die Oberfläche kultiviert. Beide sind deutsch.“

Böttiger beobachtet genau. Er sieht mehr als andere, weil er tiefer blickt. Er gehört zu den seltenen Exemplaren von Journalisten, die den Osten so gut wie den Westen kennen; in den achtziger Jahren hat er über den DDR-Schriftsteller Fritz Rudolf Fries promoviert. Die Mischung aus westlich geschultem Feuilletonismus und Gefühl für den Osten macht die glänzend geschriebenen Essays einzigartig. Sie sind dort am spannendsten, wo Böttiger den gesellschaftlichen Brüchen nachgeht, die für ihn zugleich den Übergang zu den Aufbrüchen bilden, dort, wo sich Ost und West durchdringen und wo das Folgen hat: „Plötzlich gibt es den Westen gar nicht mehr – ein ästhetischer Vorschein der deutschen Zukunft.“

Der Autor läßt keinen Zweifel daran, wo die eigentlichen Zentren der Bewegung liegen: im Osten. Wo andere nur Nostalgie und Beharrung ausmachen, sieht er inmitten der Trümmer eine Energie, zu verändern. Die Nationalhymne der DDR bekommt hier ihren späten Sinn: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“. Böttiger beschreibt eindrucksvoll die Momente, in denen sich „der Osten als Avantgarde“ zeigt, und in ihnen sieht er einen Vorgriff auf den Alltag der zukünftigen Bundesrepublik. Das, was herrscht, wird verlacht: die alte Bundesrepublik, die Sozialdemokratie, die 68er, die ganzen postmodernen Spielereien. Es macht sich eine Sehnsucht nach Eindeutigkeit breit, nach Härte. Der Westen kann darauf nur noch mit der müden Wiederkehr des Immergleichen antworten. Er hat, anders als der Osten, nicht die Erfahrung des Untergangs gemacht. Ihr entspringt eine Individualität, die der Westen nicht kennt. Frank Castorf, Intendant der Volksbühne und einer der wichtigsten Vertreter des von Böttiger gezeichneten Milieus, beschreibt diese so: „Ich sehe in diesem schrankenlosen Individualismus im Westen eine ungeheure Konformität, um nicht zu sagen, einen Totalkollektivismus, genau umgekehrt zur Erfahrung in der DDR, wo sich in den kollektiven Strukturen Individualitäten extrem trainieren konnten.“

Dieser Satz könnte auch von Daniela Dahn stammen. Die 47jährige Autorin ist in den letzten Monaten zum personifizierten Osttrotz geworden. Etwas hochtrabend wird sie die „Jeanne d'Arc des Ostgefühls“ genannt, weil sie sich, wie kaum jemand vorher aus dem Osten, als Anwältin östlicher Kritik an der Selbstgerechtigkeit des Westens gibt.

Ihr Ansatzpunkt der Kritik ist richtig: Der Westen begreift die deutsche Einheit bis heute als seinen Sieg. Und die Beispiele, die sie dafür findet, sind fast alle überzeugend. Aber das Problem des Buches beginnt dort, wo sie zum Gegenangriff übergeht, wo sie den Osten gegen den Westen aufrechnet, wo sie ihr eigenes Leben gegen die Legendenbildung setzt. Da stellt Daniela Dahn der poststalinistischen DDR eine finanzstalinistische Bundesrepublik gegenüber. Da versucht sie zu beweisen, daß nicht etwa hundert Prozent der Leute, die versucht haben, aus der DDR abzuhauen, an der Mauer ums Leben gekommen sind, „sondern nur 0,06 Prozent“. Da ist beim Vergleich von DDR und BRD die Summe der Repressionen immer gleich: „Das ist eine Frage der Statik von Systemen, die sich offene Gewalt weitgehend versagen. Alle politischen Gesellschaften sind hierarchisch aufgebaut, ihre Mechanismen ähneln sich.“ Was sich hier widerspiegelt, ist ein fatalistischer Glaube an die ewige Wiederkehr des Immergleichen. Erst „Sozialismus“, jetzt „Demokratie“ – das ist bei Dahn einerlei. Von beidem ist sie enttäuscht.

Diese Sichtweise ist typisch für die DDR-Generation der heute 40- bis 50jährigen. Sie sind Anfang der siebziger Jahre politisiert worden, als Honecker mit seinem Machtantritt eine Phase der teilweisen Liberalisierung einleitete und damit bei nicht wenigen neue Hoffnungen weckte. Das hat diese „Zwischengeneration“ bis heute geprägt. Christoph Dieckmann (40) hat das Besondere an ihr in einer Art Selbstbezichtigung einmal so beschrieben: „Unsere DDR ist nicht mehr ganz martialisch gewesen und noch nicht völlig zynisch. Sie hat eine einzige freundliche Generation hervorgebracht: uns. Und niemand ist wie wir zur Ostalgie begabt... Finger weg von unserem Leben!, rufen wir halbwegs entrüstet. So war's nicht! Der Kapitalismus löst auch kein einziges Weltproblem! Daß dies Neue kein System ist wie das Alte, obwohl es Machtstrukturen hat und Rituale, aber keine allmächtig-unfehlbare Staatsdoktrin, das können wir nur schwer – begreifen? Verkraften?“

Daniela Dahn sei trotzdem empfohlen, allein, weil sie ein bestimmtes östliches Lebensgefühl widerspiegelt, es damit auflädt und neu produziert. Und an diesem Osten kommt niemand vorbei.

Helmut Böttiger: „Ostzeit – Westzeit. Aufbrüche einer neuen Kultur“. Luchterhand Literatur, München 1996, 157 Seiten, 29,80 DM

Daniela Dahn: „Westwärts und nicht vergessen“. Rowohlt Verlag, Berlin 1996, 208 Seiten, 32 DM