Es ist nicht mehr so schön wie mit der Mauer

Die eine wohnt in der Pankower Schulzestraße, die andere in der Weddinger Nordbahnstraße. Christa Zille und Helma Ritthaler trennten nur 100 Meter Luftlinie – und die Mauer. Was sich Ost und West heute zu sagen haben, moderiert  ■ Jens Rübsam

Helma Ritthaler: Ich wohne, mit kurzen Unterbrechungen, seit 1952 in der Nordbahnstraße. Geboren bin ich nicht weit von hier, in der Kattegatstraße, die gehörte damals noch zu Pankow. Warum diese Ecke dann zum Wedding kam, weiß ich gar nicht.

Christa Zille: Ich habe in Niederschönhausen ein kleines Zimmerchen gehabt, meine Tochter wurde da geboren. Nachher war die Wohnung zu klein, da habe ich gekämpft, daß ich ins Grenzgebiet reinkomme. Das war 1983. Meine Tochter wollte da nicht hin, die wußte, daß das nicht schön ist mit den Passierscheinen und allem. Die Jungschen, die bei uns in der Schulzestraße gewohnt haben, die wollten alle raus aus dem Grenzgebiet, weil sie doch keinen Besuch empfangen durften. Oftmals wurden die Passierscheine ja abgelehnt. An und für sich haben hier nur Parteigenossen und Polizisten gewohnt. Ich war parteilos, und da war es sehr schwer, ins Grenzgebiet zu kommen. Ich hatte nichts zu verbergen und habe gut gearbeitet. Umgezogen bin ich mit einem Fahrradanhänger.

Ritthaler: Wie das halt so war.

Zille: Wir hatten kein Geld, und meine Tochter ist manchmal mitgegangen und hat den Wagen gezogen. Die durfte aber nicht mit hoch, um zu helfen, die mußte auf der anderen Straßenseite stehenbleiben. Das war ja so. Die eine Hälfte der Schulzestraße war Sperrgebiet, die andere nicht.

Ritthaler: Was damals, nach dem Mauerbau, auf der anderen Seite passiert ist, konnte man gar nicht begreifen. Hinter dem Bahnhof, da waren ja viele Häuser, die wurden alle abgerissen oder gesprengt. „Muß das sein?“ habe ich mich immer gefragt.

Zille: Vom Mauerbau weiß ich nur von einer Freundin. Die kam eines Tages heulend angerannt und sagte: „Die ziehen eine Mauer.“ Ich war erschrocken, was die da erzählt.

Ritthaler: 1963 ist unser erster Sohn geboren. Da habe ich mit dem Bündel immer auf dem Balkon gestanden. Es hat nicht lange gedauert, da habe ich ein Päckchen von der Schulzestraße bekommen. Ein Teddy war drin und eine Tafel Schokolade und ein Ball. Ich kannte die Leute gar nicht, ich habe sie auch nie kennengelernt. Irgendwann waren sie weg. Ich habe mich aber bedankt, auch mit einem Päckchen. Man hat sich ja immer mal mit den Leuten von drüben gewunken, und Weihnachten wurden Kerzen in die Fenster gestellt, und Silvester haben die Leutchen immer nach hinten raus, zu uns raus, gefeiert. Aber wenn Kontrollen kamen, sind sie schnell weg von den Fenstern.

Zille: Als ich 1983 hierherkam, da war ja alles schon perfekt. Ich hatte immer die Mauer vor der Nase und die Türme, wo die Soldaten rumgelaufen sind.

Ritthaler: Es wurde ständig gebaut. Noch eine Mauer auf unserer Seite und noch ein Wachturm.

Zille: Immer wieder wurden neue Wachtürme gebaut. Wissen Sie, man hat öfter auch mal Schüsse gehört, aber die Soldaten, die haben Hasen geschossen, wenn sie nachts Langeweile hatten.

Ritthaler: Oder die Hunde sind rumgelaufen. Die haben gejault, weil sie Hunger hatten. Das war manchmal nicht ganz feierlich. Tag und Nacht war alles beleuchtet. Wir brauchten manchmal im Wohnzimmer gar kein Licht.

Zille: Sehr hell war das. Wir hatten genau diese Lampen vor der Nase. Mir war das wirklich zu hell.

Ritthaler: Das war unangenehm. Aber was sollte man machen? Man hatte sich daran gewöhnt.

Zille: Nur wissen Sie, bei uns sind die Grenzer auf dem Hof rumgelaufen und auch im Haus. Auf dem Boden und so. Die haben auch eine Seite bei uns im Boden zugemauert. Ich habe manchmal direkt Angst gehabt, weil die vor unserer Wohnungstür stehengeblieben sind. Ich habe mich da gar nicht rausgetraut. Wahrscheinlich haben die gehorcht, ob wir Westen im Fernsehen gucken. Man muß sagen, die Leute haben sich alle sehr eingesperrt gefühlt.

Ritthaler: Na logisch, wo Grenzgebiet ist.

Zille: Für meine Tochter hatte ich später einen Dauerpassierschein, der wurde alle halbe Jahre verlängert. Meine Tochter war sehr krank, ich mußte sie in die Schulzestraße holen, in meine Nebenwohnung. Meine Tochter war Epileptikerin. Ich muß sagen, da haben mir die Grenzposten viel geholfen. Sie haben den Krankenwagen per Funk geholt oder sind selber gekommen, um sie festzuhalten, weil ich das allein nicht geschafft habe.

Ritthaler: Früher bin ich immer zum Fleischer und zum Bäcker rüber. Da drüben, das war immer unser Bäcker. Und dann hatten wir mal ein ganz dramatisches Erlebnis. Ich sitze in meinem Zimmer und denke, nanu, was fliegt denn drüben in der Schulzestraße aus dem Fenster. Ein kleines Kind, vielleicht zwei Jahre alt, hat Teddys und Kissen rausgeschmissen. Ich dachte, wann wird das Kind rausfliegen? Ich habe natürlich gleich unsere Polizei angerufen. Die sagte, das sei so weit weg. Und bis sie an die Grenze rankommen würden... Ich sagte: Dann rufen Sie doch mit einem Megaphon, das Kind ist doch in Gefahr. Ich sage Ihnen, ich habe bald die Krise gekriegt, die Sachen flogen weiter raus. Dann kamen zum Glück Bauarbeiter, die haben das gesehen, und es dauerte nicht lange, da wurde das Fenster zugemacht. Wissen Sie, man war so hilflos.

taz: Am 13. November 1989 wurde der Grenzübergang Wollankstraße geöffnet. Was war das für ein Gefühl?

Ritthaler: Die Leute haben schon vorher angefangen, mit dem Hammer zu klopfen. Als dann die ersten kamen, das war so ein Trabiclub, da standen wir alle unten und haben die bewirtet.

Zille: Ich bin überhaupt nicht raus. Ich habe vorm Fernseher gesessen und habe geheult.

Ritthaler: Wir haben unten gestanden und die Leute begrüßt. Silvester 89/90, das war eine Superfete. Wir haben Salatschüsseln und belegte Brötchen und Pfannkuchen runtergebracht. Und dann sind wir rüber zu den Wachposten, die standen ja noch und mußten kontrollieren. Wir haben die Platten bei denen abgestellt und gesagt: „Mensch, freßt doch, tut nicht so!“ Die haben sich zuerst nicht getraut, weil da ein paar Höhere standen, dann war alles im Nu weg.

Zille: Ich habe alles von oben beobachtet, weil ich allein war.

Ritthaler: Nicht raus? Das hätte ich nicht ausgehalten.

Zille: Wissen Sie, ich bin sehr ängstlich. Ich habe mich nicht runtergetraut. Ich habe das alles nur durch das Fernsehen mitgekriegt. Da sind mir die Tränen gerannt, ich habe die halbe Nacht dagesessen und geheult.

taz: Hatten Sie damit gerechnet, daß die Grenze irgendwann einmal aufgehen würde?

Zille: Eigentlich nicht. Das war eine totale Überraschung.

Ritthaler: Mir ging's genauso. Man hatte sich an die Mauer gewöhnt. Im Hinterstübchen habe ich schon gedacht, ja, vielleicht wird das noch mal anders. Wir haben nämlich drüben ein Grundstück, in der Nähe von Oranienburg. Aber ich kriege es nicht wieder. Ich habe nur Unkosten. Da ist noch eine DDR-Bürgerin drauf. Die darf bis an ihr Lebensende draufbleiben. Und da sie noch sehr rüstig ist und jedes Jahr ein Vierteljahr auf Fuerteventura tourt, kann das noch lange dauern. Das ist wieder das Schmerzliche. Ich habe gedacht, gut, jetzt hast du ein Grundstück, vielleicht kannste dir da noch mal ein kleines Häuschen draufsetzen, kannst dir das Leben mit deinen Kindern schön machen. Aber es soll nicht sein. Rückübertragen habe ich es bekommen, ich muß Versicherung zahlen, muß Steuern zahlen, muß die Schneebeseitigung veranlassen. Aber rauf kann ich nicht. Das ist schon hart. Und da kommen die noch und sagen, wir hätten uns jahrelang nicht gekümmert. Das ist doch unfair.

Zille: Das ist bei uns mit dem Hauseigentümer genauso. Der hat sich wieder gemeldet. Und jetzt hat jeder Angst, daß er raus muß. Es wird auch nichts gemacht. Nur das Notwendigste. Rohrbrüche oder so was. Alles andere bleibt.

Ritthaler: Das kann ja auch gar keiner finanzieren. Die Mieten sind noch nicht hoch genug.

Zille: Für uns sind sie hoch genug, will ich Ihnen mal sagen. Ich bin Invalidenrentnerin, und da kriegt man nicht so viel. Ich habe bloß tausend Mark im Monat. Wenn ich davon alles bezahle, bleiben noch 200 zum Leben. Und dann wird die Energie erhöht, und die Miete wird laufend teurer. Ich zahle 385 Mark für eine kleine Zweiraumwohnung ohne Bad, mit Ofenheizung.

Ritthaler: Wir zahlen 780 Mark Kaltmiete, da kommt Gas noch dazu. Das sind im Monat mindestens 200 Mark. Wir sind drei Personen im Haushalt. Unser Sohn hat ausgelernt, ist aber sofort entlassen worden. Jetzt sucht er sich immer selbst einen Job, sogenannte Zeitarbeit. Da darf er für neun Mark die Stunde arbeiten. Und darum sage ich ja: Die drüben gehen alle auf die Straße und schimpfen. Sie wollen angeglichen werden, wollen Weihnachtsgeld. Das kriegt der Junge alles nicht. Der kleine Kerl könnte allein nicht leben. Er kann auch nicht so dicke Autos fahren, wie sie drüben mitunter gefahren werden.

Zille: Alle bei uns im Haus haben Angst, wenn der Eigentümer zurückkommt.

Ritthaler: Das ist doch Quatsch. Sie haben Mieterschutz. Sogar die Frau, die unser Grundstück nur zu Wochenendzwecken nutzt, muß ich dulden. Das müssen Sie sich mal vorstellen. Ich sitze hier auf dem kleinen Balkon, muß den Automief einatmen, habe ein eigenes Grundstück und darf da nicht hin. Da kann man ärgerlich werden.

Zille: Das verstehe ich schon.

Ritthaler: Mein Vater hat damals auch alles zusammenkratzen müssen, um sich das Stück Land leisten zu können. Und die sagen jetzt, wir hätten uns nicht gekümmert. Jetzt müssen sie Pacht bezahlen. Okay, mehr als früher. Die haben früher im ganzen Jahr 84 Mark Pacht bezahlt. Für ein Grundstück von fast 1.000 Quadratmetern.

Zille: Heute werden sie auch mehr bezahlen müssen.

Ritthaler: 1.200 Mark.

Zille: Solche Grundstücke gibt es ja viele. Die einen kämpfen, daß sie es wiederbekommen, die anderen sagen sich, wir haben das Grundstück die ganzen Jahre bearbeitet und alles schöngemacht.

Ritthaler: Das ist doch kein Argument. Wenn ich eine Wohnung miete, mache ich die auch schön. Wenn ich rausziehe, sage ich auch nicht, ich habe hier 40 Jahre gewohnt und habe so und so oft die Tapete gewechselt. Jetzt, bitte schön, zahlen sie mir 30.000 Mark zurück. Ich habe doch 40 Jahre den Nutzen davon gehabt.

Zille: Aber die wollen nun nicht mehr raus. Die sagen sich, sie haben geackert die ganzen Jahre, jetzt wollen sie es behalten.

Ritthaler: So sehe ich das nicht. Da können die Oberen noch so viel reden. Das wird ewig dauern, bis eine Einheit da ist.

Zille: Bei uns wird auch geschimpft. Wir haben nämlich jetzt keinen Hof mehr. Das Grundstück hinter dem Haus ist eine Grünanlage, ist eine freie Straße, da kann jeder rauf. Die Hundehalter lassen ihre Hunde hinmachen, die Wäsche kann man nicht mehr aufhängen, weil die geklaut wird. Die Obdachlosen von der Suppenküche nebenan liegen im Sommer da und schlafen ihren Rausch aus. Ich muß Ihnen mal sagen, es ist nicht mehr so schön wie vorher, als die Mauer noch da war.

Ritthaler: Die Ruhe ist nicht mehr da. Wir sind früher aus der Straße rausgefahren, kein Problem. Jetzt muß mein Mann mindestens eine Dreiviertelstunde früher los, nur weil er nicht mehr aus der Straße kommt. Damit muß man leben.

Zille: Wir haben mit der Wohnungsbaugesellschaft gesprochen, ob wir uns selber einen Zaun bauen können. Die Mieter hätten alle zusammengelegt. Die haben geantwortet: „Da hätten Sie auch die Mauer stehenlassen können.“

taz: Frau Ritthaler, Ihr Bäcker, Ihr Fleischer, die waren immer in Pankow. Ist das jetzt wieder so?

Ritthaler: Gleich nach der Wende war ich dort, aber ich war immer die Westlerin. Es wurde gleich getuschelt. Und wenn ich bezahlt habe, es gab noch Ostgeld, und ich habe für 3,40 Mark Wurst gekauft und 3,50 Mark West hingelegt, da habe ich einen Ostgroschen wiedergekriegt. Man war eben eine von der anderen Seite.

Zille: Ich bin immer noch ein Ostmensch. Ich fühle mich fremd, wenn ich unter der Bahnbrücke durch bin. Wie im Ausland fühle ich mich. Die Wollankstraße hier im Osten, da gehe ich einkaufen. Weiter komme ich nicht.

Ritthaler: Das ist auch so ein Beispiel. Meinen Verwandten sollte ich immer Persil schicken. Jetzt wollen sie mir erzählen, Spee sei besser. Da kann doch was nicht stimmen.

taz: Gibt es Kontakte zwischen den Menschen in der Schulze- und in der Nordbahnstraße?

Zille: Ich kenne niemanden.

Ritthaler: Ich auch nicht.