Gipfel läßt den Tisch leer

Heute beginnt in Rom der Welternährungsgipfel. Verhandelt wird über Gentechnik und Welthandel. Doch der Hunger ist ein Verteilungsproblem  ■ Von Thomas Worm

Zahlen lügen. Zumindest sagen sie nicht die volle Wahrheit. Vorzeigeland Indien, vom Getreideimporteur zum Selbstversorger aufgestiegen, fährt zum sechsten Mal hintereinander eine Rekordernte ein – aber ein Drittel der Inderinnen und Inder hat nicht genug zum Essen. Auch die Welternährungsorganisation FAO legt zum UN- Hungergipfel in Rom eine auf den ersten Blick beeindruckende Bilanz vor. Heutezutage stehen jedem Menschen auf dem Erdball 15 Prozent mehr Getreide und Fleisch, Obst und Gemüse zur Verfügung als noch vor 20 Jahren. Trotz Bevölkerungswachstum hat sich demnach die Ernährungslage verbessert. Behaupten die Zahlen.

Wer aber wo und wieviel Nahrungsmittel abbekommt, verrät die Pro-Kopf-Erzeugung nicht. Während sie in Burkina Faso deutlich stieg, hungern dort immer mehr Menschen, und umgekehrt sind in Botswana trotz sinkender Agrarproduktion je Einwohner die Tische reichlicher gedeckt. Die Fixierung auf den landwirtschaftlichen Output vernachlässigt die Frage nach dem Zugang zum Produzierten. Nicht die durchschnittliche Höhe der Ernten entscheidet letztlich über die Ernährungssicherheit, sondern die Zugangschancen, also Landbesitz oder das verfügbare Einkommen. Damit ist das Problem des Hungers vor allem ein Problem der Verteilung.

Während die Welternährungskonferenz von morgen bis Sonntag tagt, werden mindestens 800 Millionen Menschen auf der Erde jeden Tag mit chronischem Hunger zubringen, die meisten im Süden.

Damit nicht genug. Ein Drittel aller Kinder ist fehlernährt, und Industriestaaten wie Großbritannien erfassen mittlerweile in Armutsberichten die sich verschlechternde Ernährungslage ihrer Armen.

Trotz des Optimismus der siebziger Jahre, den Hunger binnen einer Dekade auszurotten, ist mindestens ein Sechstel der Menschheit nicht satt geworden. Dabei wäre die globale Agrarproduktion heute in der Lage, sämtliche Mägen zu füllen. Hält der Trend an, wächst auch während der nächsten Jahrzehnte die Nahrungsmenge schneller als die Menschheit.

Dennoch gab FAO-Generaldirektor Jaques Diouf im Mai 1994 die Parole für „eine neue Grüne Revolution“ aus. Damit wollte er den Hunger vor allem durch neue Produktionszuwächse bekämpfen. Dioufs Ansatz: Forschungsmittel, Investitionen und Technologie in Bereiche mit großen Wachstumspotentialen zu pumpen – zumeist kommerzielle Plantagen.

Dioufs Konzept wurde von regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) und verschiedenen Fachleuten heftig kritisiert. Denn es entstand der falsche Eindruck, „die weltweite Nahrungsmittelerzeugung laufe Gefahr, mit dem Bevölkerungswachstum nicht mehr Schritt zu halten“, wie der Harvard-Ökonom Armartya K. Sen in einem Appell an die FAO kritisierte. Mittlerweile setzt die UN-Organisation nicht mehr so radikal auf gesteigerte Hektarerträge. Die Förderung von Kleinbauern durch Kredite, Beratung und Ausbildung, weniger exportorientierte Monokulturen und Anbaumethoden, die mit geringen Inputs auskommen, sollen die lokale Ernährungssituation verbessern.

In dem Maße, wie der „klassische“ Ansatz einer zweiten Grünen Revolution immer weniger Erfolg verspricht, verheißt die Biotechnologie hypereffiziente Tier- und Pflanzenarten. Ob die Gentechnik jedoch zu „hungerwirksamen“ Erzeugnissen für den Süden führt, ist zweifelhaft. Die weitgehend privat organisierte Biotech- Forschung in der Landwirtschaft konzentriert sich laut Panos-Institut zu 97,5 Prozent auf die USA, EU und Japan. Die fünf größten der Forschung – Dupont, ICI, Monsanto, Sandoz und Ciba- Geigy – haben allesamt Interesse am Verkauf ihrer Agrochemikalien. Gentechnische Forschung wird von diesen Firmen mit dem Ziel betrieben, den Absatz ihrer teuren Rundumsortimente vom Hochertragsamen bis zum Fungizid nach oben zu puschen.

Mehr noch als auf der Biotechnologie ruhen die Hoffnungen von Vertretern der Industriestaaten auf dem freien Welthandel. Der Weltaktionsplan des Ernährungsgipfels wird eine weitere Liberalisierung des Agrarexports empfehlen. Davon profitieren aber in erster Linie die subventionierten Überschußgebiete des Nordens, zuvorderst Europäische Union und USA. Während sie mit ihren Billigexporten von Getreide und Fleisch den Weltmarkt überschwemmen, schrumpft der Anteil der südlichen Länder am globalen Agrarhandel ständig: von 40 Prozent in den frühen 60ern auf 27 Prozent im Jahr 1993.

So ist denn auch der Versuch der NGOs und den G 7-Ländern gescheitert, das international anerkannte Menschenrecht auf Nahrung über einen Verhaltenskodex im bereits abgefaßten Schlußdokument des Gipfels tatsächlich umzusetzen. Überraschend „störrisch“ zeigte sich neben den USA auch die Bundesregierung, sagt Frank Braßel vom Food First Informations- und Aktionsnetzwerk (Fian), als es darum ging, dieses soziale Menschenrecht im Weltaktionsplan „substantiell zu stärken“. Die deutsche Angst vor Geldforderungen aus dem Süden sei ihm unverständlich, so Braßel, da etwa ein Stopp der Landvertreibung und eine Bodenreform keine Geldflüsse aus dem Norden erforderten. Dennoch will die FAO im Weltaktionsplan die Zahl der Hungernden bis 2015 halbieren, ohne allerdings konkret und verbindlich zu benennen, wie. Jochen Donner von der Welthungerhilfe hält den FAO-Plan deshalb „für ein halbherziges Dokument, dem der Realismus fehlt“.

Papier ist geduldig. 23 Stunden und 35 Minuten dauert die Lektüre eines regulären Gipfelaktionsplans. Das stellte jüngst ein UN- Round-Table in Berlin über das Thema „Zukunft der Weltkonferenzen“ fest, zu dem die Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung eingeladen hatte. Und solange die Gipfelbeschlüsse auf nationaler Ebene nicht rechtsverbindlich durchgesetzt werden, resümierten die Diskussionsteilnehmer, drohen sie, Absichtserklärungen zu bleiben.