Küsse, Kitsch und Knete

■ „Romantic Lovers“, ausgegraben aus einem Prager Privatarchiv

Der Himmel ist blau, die Sonne gülden und die Wiesen sehen wie gekämmt aus. Hingerissen von der eigenen Begeisterung, gerät der Kommentar in schieres Frohlocken. Im Film Die Familie Ruhesucher in der Tschechoslowakei reisen wir zu Easy-Listening-Gelulle und zusammen mit den „Ruhesucher“-Eltern, der Mutter mit dem kunstvoll toupierten Haarhelm, dem stattlichen Vati, der voller Besitzerstolz und der nachkriegsdeutschen Das-haben-wir-uns-aber-auch-verdient-Urlaubermine seinen Mercedes durchs liebliche Böhmen der ausgehenden 60er Jahre lenkt. Mit einer Mischung aus Rührung und mokanter Fassungslosigkeit begegnet man hier ranzigen Zeremoniellen, wie dem sonntäglichen Kostümierzwang der Zög- linge, die, vom Faltenrock bis zur Haarspange, durch den mütterlichen Familiendekorationswillen zu geschwisterlicher Gleichheit assimiliert werden.

Der Kurzfilm Familie Ruhesucher in der Tschechoslowakei (1969), den die tschechoslowakische Regierung zu PR-Zwecken in Auftrag gegeben hatte, damit die erste Tourismuswelle aus dem rasch Weltkriegsgenesenden Westdeutschland den östlichen Nachbarn nicht devisenleer ausgehen läßt, ist ein nostalgisches Postkarten-Kino und einer der insgesamt neun Kurzfilme, mit denen Abaton-Mitarbeiter Michael Erfurt durch sieben Hamburger Kinos zieht.

Das Kurzfilm-Tournee-Motto „Romantic Lovers“ ist ebenso klangvoll wie irritierend, läßt es sich thematisch doch nur über einen Kompilationsfilm, nämlich The Great Lovers, stülpen. Hier empfehlen sich von Valentino bis Clark Gable oder Humphrey Bogart die US-amerikanischen Leinwand-Kußmeister, die, je nach Mode, behutsam ihren nicht selten schnauzerumrankten Knutsch-mund an weibliche Lippen dockten oder die zu Küssenden, wie die markige Kommentarstimme raunt, „so rüde an sich drückten, bis die Frauen lernten, genau das zu lieben“. Dazu wimmelt es von weltberühmten Filmschlußküssen, die mal ungelenken Nahkampftechniken an wüstem Tatendrang nicht nachstehen, mal wie orthopädische Fallstudien anmuten, drücken die Männermünder das Objekt ihrer Begierde doch bis in erstaunliche, ja akrobatische Hohlkreuze.

Unter den Filmen, die Michael Erfurt allesamt beim Stöbern in dem Prager Privatarchiv von Ales Vincik in die Hände fielen, stechen vor allem die Produktionen von Jan Svankmajer, wie Im Kohlenkeller oder Dialogdimensionen heraus. In seinen Plastilinanimationen von 1982 fressen sich aus ausgiebigem Gemüse-Sortiment ganz nach Arcimboldo-Manier gepuzzelte Köpfe in heftigen Diskussionen gegenseitig auf. Aus dem anschließend Erbrochenen entsteigt eine neue Diskutantenmischung, die sich wieder ans Zetern und Verdauen macht. Und wenn Svankmajers Liebespaar in einem leidenschaftlichen Dialog nicht länger an sich halten kann und sich lustvoll gegenseitig zu Klump knetet, ist zum Thema Liebe, Lust und Leid das Eigentliche ebenso leichthändig wie unmißverständlich hereingeknetet.

big 15. Nov., Lichtmeß; 17.Nov., Abaton, 19. Nov. Alabama; 21. Nov., fama, 23.Nov., 3001; 24. Nov., Zeise, 25. Nov., Metropolis