Permanente Mutationen

■ Mit der neuen Performance „Ich“ erinnert das R.A.MM.-Theater an seine zehnjährige Geschichte

„Die freie Szene in Berlin versteht sich nicht zu feiern“, stellte Gerd Hunger, dienstältester Lobbyist der Freien Theaterszene, vor kurzem bedauernd fest. Aber nicht nur das zehnjährige Bestehen des Verbands der Freien Theater, SPOTT, wurde in diesem Herbst übergangen, sondern auch bei R.A.MM. gab es keine Party zum zehnten Geburtstag. Zwar hatte der künstlerische Leiter Arthur Kuggeleyn mit dem Gedanken gespielt, ein öffentliches „Kampftrinken“ mit Freunden und ehemaligen Kollegen zu veranstalten. Aber was hätte das geben können, ein anarchisches Happening im Stile vergangener Zeiten?

R.A.MM. wurde Ende der achtziger Jahre zum Markenzeichen für eine großstädtische Performance-Art der Post-Punk-Ära: Spektakel aus Feuer und Schrott, archaische Abreaktionsspiele für Zivilisationsgeschädigte, Zirkus und Volkstheater für Kreuzberger Hausbesetzer. Das bleibt, zugegeben schon zum Klischee verkommen, die Erinnerung an jene Zeit, da man zu „Akte“, „Massentrieb“ und „embryonale, evolutionäre Stauforschung“ pilgerte.

Entgrenzung von Kunst in Leben und umgekehrt, der Traum vom kollektiven Produzieren brachte eine Truppe von zeitweise bis zu zwanzig Leuten zusammen, Männer und Frauen, Performer, Musiker, Pyro- und sonstige Techniker, und drumherum noch Kinder und Hunde, die zur R.A.MM.- Familie ebenso gehörten wie ein Fuhrpark aus schwarzen VW-Bussen und Lkws, mit denen die Truppe durch Europa tourte.

Ob in der Halle in der Fidicinstraße, der Spielstätte „R.A.MM.- ZATA“ oder bei den Straßentheater-Aktionen – immer warnten große Schilder die Besucher: „Sie befinden sich hier auf eigenes Risiko.“ Verletzungsgefahr bestand jedoch höchstens für die Akteure selbst, wenn sie mit selbstgebauten Maschinen hantierten. Immer wollte die Multimedia-Gruppe beim Publikum unmittelbare Reaktionen provozieren. Einmal hatten sie bei einem Straßentheaterfestival in Polen mit „Stauforschung“ so großen Erfolg, daß sie nur mit Mühe die eigene Haut retten konnten. Die dargestellte Aggression gegen den Fetisch Auto schlug um in Handgreiflichkeiten gegen die Performer.

Das Fasziniertsein vom Triebhaften, Manischen und Wahnsinnigen machte R.A.MM. nicht nur als Gegenstand theaterwissenschaftlicher Diplomarbeiten interessant, es zog auch Leute an, die sich nicht scheuten, bei „Bestia Pigra“ mit versteckter Kamera die nackten Performer zu filmen. Dieses Stück, bei dem sich die Akteure in einer dem römischen Zirkus nachempfundenen Arena von einem Conferencier wie Tiere in einer Dressurnummer vorführen ließen, gilt vielen als das Opus magnum der Truppe. Eigentlich als Inszenierung des Ekels am Showbusineß gedacht, wurde es vom Publikum zumeist als gute Show konsumiert. Spätestens hier wurde R.A.MM. der eigene Erfolg suspekt, und der Entwicklung hin zu immer größeren Produktionen war die Truppe schon rein physisch nicht mehr gewachsen.

R.A.MM. hatte seinen Sitz inzwischen aufs Land verlegt. Auf dem Gelände eines Gutshofes in Mecklenburg-Vorpommern gründeten sie „Schloß Bröllin“, eine Produktionsstätte für internationales freies Theater und experimentelle Kunst. Die Produktionen aus dieser Zeit wurden esoterischer, kreisten um existentielle, gruppeninterne Fragen oder beschäftigten sich in „Kärlek“ mit altgermanischer Mythologie.

Dieser Versuch, zu den Wurzeln deutscher Identitätssuche vorzudringen, brachte ihnen denn auch prompt den Vorwurf faschistoider Ästhetik ein. Sie fühlten sich vor allem von der Berliner Kritik mißverstanden und waren in den letzten Jahren mit kleineren Performances meist auf Tournee. Die Resultate dieses Work in progress, aus dessen Material wieder große Aufführungen hervorgingen, waren dann allerdings dem hauptstädtischen Publikum vorbehalten. Zuletzt mit „Zeichen eines Schockes“, einem Techno-Spektakel im E-Werk. Die Zelte auf dem Dorf wurden inzwischen abgebrochen, dafür im Global Village aufgeschlagen, und auch theatralisch kündigt sich ein Neuanfang an.

Auf das „Kampftrinken“ wurde zugunsten der neuen Produktion „Ich“ verzichtet, die derzeit im Dock11 zu sehen ist. Sechs Performer, bis auf Arthur Kuggeleyn lauter neue Gesichter, verbringen diesen fast schon introvertierten Abend auf hochbeinigen Tischen, aufgereiht wie Bahren in einem Leichenschauhaus, tanzend, unter der Decke hängend oder durch den Raum schwebend. Vertrautes R.A.MM.-Vokabular passiert Revue, während ein 90minütiger, chorisch gesprochener und gesungener Monolog die permanenten Mutationen eines Ich zwischen Allmacht und Autismus, Größenwahn und Auflösung beschreibt und dabei gleichzeitig die Geschichte des R.A.MM. aufscheinen läßt. Was man immer schon ahnte, wird mit dieser Produktion Gewißheit: daß in der wilden Bestie eine zarte, verletzte Seele schlummert. Kathrin Tiedemann

Noch bis 16.11., 21 Uhr, Dock11, Kastanienallee 79, Mitte