■ Der DGB-Programmkongreß ist interessanter, als erwartet. Denn es geht um eine fundamentale Neudefinition
: Auf schwankendem Boden

Den Gewerkschaften geht es schlecht. Anfang des Jahres scheiterte das „Bündnis für Arbeit“, eine späte Initiative in Güte. Seitdem schwankt der sozialpartnerschaftliche Boden. Das Herzstück gewerkschaftlicher Reformerrungenschaften, die Lohnfortzahlung, wird ohne Betäubung zerschnippelt. Die Tarifautonomie zerrinnt unter ihren Fingern. Die Arbeitgeber haben den bisherigen Sozialkontrakt aufgekündigt. Im Innern toben Konkurrenzkämpfe, es wird wild fusioniert. Machtprobe an allen Fronten. Jeder spürt die Götterdämmerung.

Vielleicht ist diese Turbulenz der Grund, warum die Debatte um das neue DGB-Grundsatzprogramm die Gewerkschaften zuerst kaum und dann erst sehr spät bewegt hat. Der Entwurf der Programmkommission vom Frühjahr, der zunächst mit einer Mehrheit rechnen konnte, wird, das steht fest, nun so nicht akzeptiert. Mit diesem ersten Entwurf hätten die Gewerkschaften die vorgesetzte Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeit hingenommen. Ihre Rolle hätte darin bestanden, diesen Prozeß nachträglich tugendhafter auszugestalten, als die Wirtschaft es zu tun gedenkt: sozialer, ökologischer und frauenfreundlicher. Zudem weiht dieser Entwurf die „soziale Marktwirtschaft“ zur besten aller Ordnungen. Dabei wird vergessen, daß die „soziale Marktwirtschaft“ unter bestimmten Umständen erkämpft wurde und nie unumstritten war. „Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und gesamtgesellschaftliche Vernunft“ läßt dieser Entwurf unterderhand von Unternehmern und Konservativen definieren, ein eigenes Konzept fehlt. Dennoch, heißt es dort, wollen die Gewerkschaften „handlungs- und durchsetzungsfähig bleiben“. Was sie ja längst nicht mehr sind. Seit 1989 herrscht Sachzwanglogik.

Doch kurz vor Toresschluß sind eine Unmenge Änderungsanträge eingegangen, die auf politische Alternativen zielen. Und zwar durchaus nicht nur, wie manche behaupten, von Altlinken. Die Kritik kam von Reformern und Nachdenklichen aus allen Richtungen. Die Antragskommission legte im September faktisch einen neuen Programmentwurf vor. Damit verteilte sie Beruhigungspillen an Traditionalisten und nahm Kritik, Widerstand und höhere selbstgesteckte Ziele in den Entwurf auf. Dort ist nun wieder von Streiks, Gegenmacht, Kampforganisation, dem Gegensatz von Kapital und Arbeit und der Verteidigung des Sozialstaats die Rede. Solch verbale Erkennungsmerkmale klingen nach Rückfall in verbrauchte gewerkschaftliche Rhetorik. Trotzdem: Auf alte Muster wird verzichtet.

Andere Widersprüche verlangen differenziertes Denken, heißt es in dem neuen Vorschlag der Antragskommission. So sollen das „Recht auf Arbeit“ und „Vollbeschäftigung“ auf neuen Wegen verfolgt werden: Das Modell des männlichen Normalarbeiters wird (programmatisch) verabschiedet. Geschlechtliche Ungerechtigkeiten sollen beseitigt, die „gesellschaftlich notwendige Arbeit“ neu verteilt werden. Damit wird ein Arbeitsbegriff zum gewerkschaftlichen Programm, der nicht mehr nur Berufsarbeit, sondern auch bislang private Arbeit in Familie und Haushalt einschließt.

Die Arbeitszeit soll, so der novellierte Entwurf, verkürzt werden. Familien- und Teilzeitarbeit soll es auch für Männer geben. Und auch Arbeitslose, Auszubildende und Pensionierte bekommen das Recht, Gewerkschaftsmitglied zu werden.

Der Neuentwurf zeigt, daß sich die Kräfte, unter dem Druck der Verhältnisse, nach links verschoben haben. Damit ist auf dem Kongreß mehr Kontroverse zu erwarten. Die GEW wollte die Verabschiedung des Programms wegen mancher Unklarheit vertagen. Das wird wohl kaum geschehen. Doch auch inwieweit die Delegierten dem geänderten Entwurf folgen, ist offen. Gewiß ist somit, daß auch das neue Programm nur ein Zwischenergebnis der Debatte sein wird.

Und die Zukunft? Zwar öffnen die Gewerkschaften die von oben her angelegten kollektiven Regelungssysteme für individuelle, regionale, branchenspezifische und andere Interessen. Doch sie haben die Probleme noch nicht konsequent von unten her betrachtet und eine Lösung vom schwächsten und zugleich wichtigsten Glied her entwickelt: dem Individuum. Denn die individuellen Lebensverhältnisse werden derzeit rasant umgestülpt. Von jedem Verkäufer des Produkts Arbeit wird heute volle Selbständigkeit und Mobilität verlangt. Jede(r) einstige Arbeitnehmer(in) soll Unternehmer in eigener Sache werden, der sein human capital investiert. Daß sich der einzelne und die Gesellschaft bei diesem zwiespältigen Unterfangen nicht restlos ausverkaufen – dafür müssen erst strukturelle Grundlagen geschaffen werden. Wenn der Markt rund um die Uhr und rund um den Erdball alles Wirtschaften bestimmt, dann müssen alle Akteure so ausgestattet werden, daß sie das Geschehen demokratisch steuern können und nicht neue Fürsten alles Sagen haben. Dann braucht jeder Mensch wenigstens ein Minimum an Eigentum – bezahlte Arbeit oder Grundsicherung –, und alle ökologischen und sozialen Kosten für die „Ressource Mensch“ müssen in die Preisbildung einberechnet werden. So definierte sich ein anderer Begriff von Produktivität.

Das bedeutet für die Gewerkschaften, daß sie sich entschließen müßten, das Individuum radikal zu verteidigen: als ein soziales Wesen, das nach gleichberechtigten Beziehungen strebt und seine unvermeidbare oder gewünschte Abhängigkeit frei wählt und aushandelt. Das hieße, sich für die Idee geteilter Selbstbestimmung zu entscheiden. Eine neue Arbeitsgesellschaft müßte jede Form von Arbeit als „Produktives“ eines Ganzen begreifen und aufhören, den Mensch in Maschinenkörper und soziales Gefühlswesen zu teilen. Sie dürfte die Herstellung der „Ressource Mensch“ nicht nur in private Räume abspalten und funktionelle Tätigkeiten nicht von ihrem sozialen, ökologischen und ökonomischen Umlauf.

Das ist für die Gewerkschaften, die traditionell auf das Kollektiv orientiert waren, kein leichtes Umlenken. Doch angesichts offenkundiger Unterlegenheit kann neue Macht der Gewerkschaften nur damit beginnen, sich selbst zu neuem Denken und Handeln zu ermächtigen. Die Gewerkschaft kann Raum zur Eigeninitiative und Selbsthilfe sein. Sie kann Hausfrauen, Arbeitslose, Schwarzarbeiter, Fremdarbeiter, Angestellte, Sozialhilfeempfänger organisieren, jeden einzeln. 1997 kann man zusammen in Bonn demonstrieren. Mechtild Jansen