Hinfallen und wieder aufrappeln

■ Auf der Suche nach Glückseligkeit: René Müllers langer und beschwerlicher Weg vom Sozialismus zum Christentum Rainer Schäfer ging ein Stück mit

Mit 15 erschien René Müller der Herr via verbotenem Westsender zum ersten Mal. Diese „Wahnsinnsgestalt“ stieß in der Auslegung der ARD beim Ungläubigen auf harsche Ablehnung. „Da stirbt einer freitags, wird sonnabends beerdigt und steht Stunden später wieder in der Küche. Da denkst du doch, die haben 'ne Meise.“ Die Sinnstiftung per medialer Bibelstunde war fehlgeschlagen.

Die Verheißung suchte der Adoleszente gleichwohl nicht im sozialistischen Streben nach dem irdischen Glück im Arbeiter- und Bauernstaat, sondern als Torhüter beim 1. FC Lok Leipzig, dem er 20 Jahre die Treue hielt. Der daheim genährten Westbegeisterung wich bald Trotz, als der reisende Sportsmann die Minderwertigkeit von Hammer und Sichel am eigenen Leib zu spüren bekam: Die D-Mark öffnete Türen, die dem Holz-Dollar verschlossen blieben. Aus verletztem Stolz wollte Müller beweisen, daß man auch mit der ungeliebten DDR sportlichen Erfolg haben kann. Und immer war er einer, der die Ärmel noch ein bißchen höher krempelte, wenn er sich für eine Sache entschieden hatte.

Trotz statt Westbegeisterung

Den Eintritt in die Partei, der dem impulsiven 18jährigen nahe gelegt wurde, verweigerte er aufgrund mangelnder Identifikation. Doch auch ohne SED-Mitgliedschaft avancierte Müller zum populären Spitzensportler, der es auf 46 Länderspiele brachte. Ohne Mühe fiel ihm freilich nichts zu. Hinfallen und wieder aufrappeln, so oft praktiziert, daß der schlichte Vorgang zum dialektischen Leitmotiv des Wiederaufsteh-Torstehers aus Sachsen wurde.

Den idealistischen Tod starb Müller 1987 als 28jähriger: Seine Utopie, sich mit dem Lok-Kollektiv international zu etablieren, scheiterte. „Dem Verein wurden von Parteifunktionären die Beine abgehackt, Spielerwechsel nicht genehmigt.“ Politisch war er ohnehin desillusioniert. „Ich habe gesehen, daß es überall an allen Ecken und Enden eitert. Wo ist denn der große Glanz dieser Welt?“ Ja, ja – hic transit gloria mundi: Das Elend in den sozialistischen Bruderstaaten schien mit dem des Kapitalismus konkurrieren zu können.

Seine Systemkritik stand dennoch gewissen Privilegien nicht im Wege: Geld, ein neues Auto, offene Türen beim Bäcker, Fleischer oder Klempner. Das größte Privileg waren jedoch die Auslandsreisen – Futter für seine intellektuelle Umtriebigkeit. Das Denken ließ er sich jedenfalls nicht verbieten, grüblerisch hinterfragte er Doktrinen aus Ost und West. Die ideologische Verwirrung löste sich im Fußball auf, wo Müller seine narzißtische Befriedigung fand. „Ich mußte oben stehen, war süchtig nach Anerkennung.“

Erst 1987 stellte René Müller den Antrag auf die Mitgliedschaft in der Einheitspartei. Mit Gorbatschows Aufbruch glaubte er vorübergehend an die Verheißungen des Sozialismus. Im wiedervereinten Deutschland hingegen befielen ihn ungekannte Existenzängste. Der in der DDR materiell gut Abgesicherte mußte wieder bei null anfangen. Mit 31 Jahren sollte er sich in der Bundesliga beweisen. „Ich hab' in der Jammerecke gelegen, wo für mich nur noch alles beschissen war.“

„Süchtig nach Anerkennung“

Aus Leipzig jagte man ihn nach zwei Jahrzehnten „wie einen Hund“ davon. Hinfallen und wieder aufrappeln – getreu seiner individualistischen Lebensdurchalteparole schaffte Müller bei Dynamo Dresden auch fußballerisch die Wende.

Dort setzte Mitspieler Oliver Pagé vergeblich zum zweiten Bekehrungsversuch an. Heute geläutert, sieht er den einst Abgewiesenen als Vorboten der christlichen Finalbestimmung, die ihm bald beschieden sein sollte. Jorginho, damals Kapitän von Bayer Leverkusen, überreichte ihm 1991 die Bibel. „Ich werde mal nachlesen, aber wie man Tore verhindert, werde ich darin nicht finden.“ Zwölf Monate später war aus Blasphemie neuchristliche Erkenntnis geworden. Für Müller die Rettung – im allerletzten Augenblick. Er war an dem Punkt angelangt, wo er das Leben wie einen Ball durch die Hände gleiten lassen wollte. „Ich wollte durch den Fußball göttlich werden und habe mich dabei nur kaputt gemacht.“ Ja, ja – es kann nur einen geben. Die Heilige Schrift erlöste ihn vom selbstzerstörerischen Erfolgszwang.

„Göttlich durch Fußball werden“

Sportlich ging es trotzdem bergab: In Dresden mußte Müller nach drei Jahren gehen. „Nachts um zwei hab' ich den Schrank leergeräumt“, ist noch immer Bitterkeit da. Beim FC St. Pauli, als erster Keeper eingeplant, lief es nicht besser: einige Patzer, die Ersatzbank, dann eine Knieverletzung – seit Herbst 94 ist Müller Sportinvalide. „Unglücklich“ war der Pflichtbewußte, daß er die Erwartungen am Müllerntor nicht erfüllen konnte.

Mittlerweile fühlt er sich mitPauli, „ein Unikum, das den Gesetzmäßigkeiten des Profifußballs widerspricht“, verwachsen. Ein Jahr steht er noch unter Vertrag. Die vorübergehenden Kontaktschwierigkeiten mit dem Verein nach seinem Ausfall sind vergessen. Von Manager und Amateur-Coach Jürgen Wähling („Ein kompetenter Mann, der in den Medien viel zu schlecht wegkommt“) läßt er sich in die Trainerarbeit einweisen und will im November die A-Lizenz erwerben. „Ich möchte so lange ich hier bin, dem Verein nutzen.“ Wie ihm wohl zumute wäre, würden die Braun-Weißen ohne ihn aufsteigen? „Ich würde mich riesig freuen, es wäre übelst, wenn ich das St. Pauli nicht gönnen würde.“ Fußball – eine Leidenschaft, der Müller inzwischen gelassen begegnet. Eine neue hat längst Besitz von ihm ergriffen.