Drolliger Fruchtbarkeitsschmuck

■ Manch einer hat eine Kuhglocke um die Hüften: Die griechischen Filmtage im Kino Notausgang beschäftigen sich mit neueren Deutungen antiker Mythen

„König von Ithaka, tapferer Krieger und gewandter Kundschafter, vornehmlich bekannt durch seine zehnjährigen Irrfahrten“ – wer Odysseus war, weiß nicht nur Meyers Handlexikon.

In Alexis Damianos „Der Wagenlenker“ (1995) ist die Figur des schicksalhaft Getriebenen ein von Mussolinis Schergen verhafteter junger Mann. In Gefängnis-Kasematten fristet er ein jämmerliches Dasein, während die Mitgefangenen einer nach dem anderen an Folter, gegenseitigen Feindseligkeiten oder Hunger eingehen.

Nach der Flucht schließt er sich Partisanen an, und bleibt doch nach dem Ende der griechischen Junta-Herrschaft Anfang der Siebziger Jahre desillusioniert zurück, weil sich seine Vorstellung von historischer Gerechtigkeit als ein weiteres Trugbild entpuppt. Begegnungen am Wegesrand mit Marketenderinnen, Diebinnen und anderen weiblichen Chimären runden die Irrfahrten des (mittlerweile zum kriselnden Enddreißiger gewordenen) Helden ab.

Der Regisseur traf mit seinem Film auf Kritik. Nicht nur wurde der in zehn Jahren entstandene „Wagenlenker“ an Damianos erstem Film „Evdokia“ (1971), einem schwarzweißen Klassiker, gemessen. Vor allem die epische Breite, in der die jüngste griechische Vergangenheit jahrzehnteüberspannend auf Mythen-Ausmaße gebracht wird, wurde als national-sentimentalisierend und historisch allzu sehr verklärend kritisiert.

Zum vierten Mal zeigen die Griechischen Kinotage, veranstaltet vom griechisch-deutschen Jugendzentrum Filia, ein mehrtägiges Programm im Kino Notausgang. 1993 aus einem zypriotischen Filmworkshop hervorgegangen, liefen in den vergangenen Jahren Programme zu „70 Jahre Griechisches Kino“, eine Hommage an die Schauspielerin Melina Mercouri sowie eine Retrospektive der Filme der Regisseurin Tonia Marketaki.

Dieses Jahr geht es um neuere griechische, aber auch internationale Produktionen, die antike Mythen bearbeiten. „Mit Orpheus im August“ ist die ländliche Geschichte der Folkloresängerin Eurydice, die, durch die Verlockungen städtischen Aufstiegs korrumpiert, die Liebe zu einem stummen, Klarinette spielenden Schäfersmann verleugnet. Schließlich versucht Orpheus, „der mit seiner Musik wilde Tiere, selbst Bäume und Felsen zu betören verstand“ (Meyers Handlexikon, s.o.), seine todgeweihte, spröde Leider-doch- nicht-Geliebte dem bereits dräuenden Orkus zu entreißen.

Ganz dokumentarisch dagegen geht es erst einmal in „Die Ursprünge der Tragödie“ (1994) des griechischen Independent-Filmers Stavros Ioannou zu. Von einem erläuternden Text unterlegt, der das wilde kultische Treiben des Films mythologietheoretisch ins rechte Licht rückt, zeigt Ioannou die Feiern und Tänze, die sich zeitlich rund um das Johannisfest ereignen.

Tatsächlich gehen die Dorfprozessionen auf Festlichkeiten zurück, die einst dem als Ziege personifizierten Dionysos galten. Mit der hiesigen Fastnacht haben sie höchstens den gelegentlichen Grad der Enthemmtheit gemein. Mit schwarzen gehörnten Masken in einen Pulk umherhüpfender gesichtsloser Gestalten verwandelt, geben sich diese einem rauschhaften Getöse hin. Phallische Gerätschaften unterschiedlicher Größe und Machart werden dabei mitgeführt und gegebenenfalls auch mal hochgehalten. In der Leistengegend klimpern und gongen, um die Hüfte gegurtet, Kuhglocken jeder Größe und Klangfarbe. Mancher trägt einen drolligen „Fruchtbarkeitsschmuck“ aus zwei gekeimten Zwiebelknollen und einem abgenagten Maiskolben. Jeder Protagonist ist sein eigenes Glockenspiel in diesem Geräuschfilm, der in rhythmisiertem Schnittablauf und Gebetsmühlenartigkeit bald die Dokumentarformalien aufgibt. Gudrun Holz

Bis zum 20. November, Notausgang, Vorbergstraße 1