Ein Vogel im Käfig

■ Im Prozeß gegen den Seles-Attentäter erschien gestern deren Therapeut

Sie fühle sich „wie ein Vogel im Käfig“, hat die ehemalige Weltranglisten-Erste Monica Seles einem Sport-Psychologen gegenüber ihre Situation beschrieben. Der aus den USA angereiste Therapeut der Tennisspielerin trat gestern in der Berufungsverhandlung gegen den Attentäter vom Rothenbaum, Günter Parche, als Zeuge auf. Monica Seles leide seit dem Messerstich in den Rücken unter „Angstzuständen, Schlaflosigkeiten und Depressionen“, so Jerry Russell May. „Sie hat ihre Lebensfreude verloren.“

Seles habe zuerst versucht, die psychischen Folgen des Angriffs im April 1993 wegzustecken, bei dem Parche eine Spielpause dazu genutzt hatte, ihr eine zwei Zentimeter tiefe Stichwunde zuzufügen. Spätestens im Januar 1994 sei sie nach Auskunft des Therapeuten von der Furcht eingeholt worden, der Angeklagte könne sie erneut aufsuchen und angreifen. „Seitdem lebt Monica Seles sehr isoliert und fürchtet sich, auch nur einen Supermarkt zu betreten“, so May. Die Psychiater sprechen bei diesem Krankeitsbild von einem „posttraumatischen Syndrom“. Mittlerweile hat seine Klientin das Tennis-Training wieder aufgenommen.

Die Aussage des Amerikaners über die Spätfolgen der Tat könnte bei der Strafzumessung eine Rolle spielen, wenn es an die Urteilsfindung geht. Parche war in erster Instanz im Oktober 1993 zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Ob die Kammer diesmal erneut auf gefährliche Körperverletzung erkennen oder einen versuchten Mord nicht ausschließen wird, ist noch offen.

Der Steffi Graf-Fanatiker Günter Parche hatte gestern vor Gericht beschrieben, wie er sich in einem Hotel unter falschem Namen eingeschrieben hatte und dann zu seiner Enttäuschung von den Ordnern abgewiesen worden war, als er die beiden Tennis-Konkurrenten beim Training beobachten wollte. Er war mit der Absicht, die Rivalin seiner Angebeteten für eine Weile auszuschalten, von Thüringen nach Hamburg gereist. „Mir war klar, daß ich dabei geschnappt werde“, so Parche, „schließlich schauten 8000 Leute zu.“

Der Prozeß wird fortgesetzt.

Lisa Schönemann