Alarmbereitschaft in Moskau

■ Nach dem Granatanschlag auf die US-Botschaft blühen die Spekulationen. Die Polizei erhält Sonderrechte

Moskau (taz) — Ein baseballgroßes Loch klafft im sechsten Stock der goldgelben Fassade des alten US-amerikanischen Botschaftsgebäudes am Moskauer Gartenring. Mit einem Gewehrgranatwerfer hatte am Dienstag nachmittag vermutlich ein Einzeltäter aus hundert Meter Entfernung von der gegenüberliegenden Straßenseite auf die Mission gefeuert. Die Granate durchbohrte die Außenwand des Gebäudes und verendete im Kopiergerät eines unbesetzten Büros.

Der Täter soll sich danach durch die Toreinfahrt und den Hof des Nowinskij Boulevard gemächlich auf den Rückzug begeben haben. Karton und Tarnmaterial des besonders in Tschetschenien handelsüblichen portablen Granatwerfers stellten Beamte wenig später sicher. Moskaus Sicherheitskräfte wurden sofort in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Sonderrechte gestatteten ihnen, in jede beliebige Wohnung einzudringen und jedes Fahrzeug anzuhalten. Davon machte die Polizei regen Gebrauch.

Russische Terroristen folgen bisher noch nicht der internationalen Gepflogenheit, Bekennerbriefe zu hinterlassen. So sprießen Spekulationen. Gestern veröffentlichte die Polizei ein erstes Phantombild, wonach der Attentäter Mitte 20 und mittelgroß sei und einen Trainingsanzug getragen habe. Die Beschreibung dürfte auf einige hunderttausend Bewohner der Hauptstadt zutreffen. Die US-Botschaft spielte den Vorfall sofort herunter, assistiert von der russischen Seite, die sich auffällig bemühte, keine Verknüpfung mit den Ereignissen auf dem Balkan und den verschlechterten bilateralen Beziehungen herzustellen.

Dennoch mutmaßen die Massenmedien einen zumindest indirekten Zusammenhang. Moskaus Kommersant daily schrieb: „Granaten vom Balkan verirren sich schon nach Moskau.“ Die seitens der Regierung betriebene antiamerikanische Hysterie zeitigte erste Folgen. Offenkundig hatte der Kreml eine solche Eigendynamik nicht einkalkuliert.

Wer die katastrophalen und zum Teil erniedrigenden Bedingungen in der Visaabteilung der US-Botschaft kennt, könnte zunächst meinen, ein frustrierter Antragsteller habe seiner Wut Luft machen wollen. Doch greift der zu einem derartigen Geschoß — ausgerechnet am Vorabend des Besuches von US-Vizeaußenminister Strobe Talbott, der anreist, um die eingeschnappten Russen zu besänftigen? Zu viele Einzelheiten passen zusammen, die für ein politisches Motiv sprechen. Verdächtigt werden Kreise aus dem rotbraunen Milieu, die sich nie mit dem alten Todfeind USA aussöhnen konnten. Klaus-Helge Donath