Wer nicht sprechen kann, lernt fühlen

Sprachstörungen sind keine Schönheitsfehler. Für stotternde Kinder, Schlaganfallpatienten oder Unfallopfer ist eine logopädische Behandlung lebenswichtig. Wer sie in Zukunft bezahlt, weiß niemand  ■ Von Constanze von Bullion

Das rote Männchen ist noch nicht im Ziel, da schreit er schon und reißt die Arme hoch. Der Knirps mit den strohblonden Haaren flitzt aus dem Zimmer, kickt gegen einen Stapel blauer Schaumstoffwürfel, purzelt der Länge nach drüber. Blitzschnell rappelt er sich hoch, rast zurück zum Spielbrett, würfelt, springt wieder los und dreht noch eine Runde. „Ich haufe“, kräht der Kleine aufgekratzt, „ich haufe beim Zieh!“ Die junge Frau, die auf dem Parkettboden sitzt und die Spielfiguren in eine große Pappkiste packt, nickt bestätigend: „Du läufst zum Ziel.“ Sie steht auf, fängt den zappelnden Bengel ein und hält ihn fest in den Armen. Bis das Gestrampel aufhört.

Carlo Winkler* ist ein hyperaktives Kind. Er kann nicht still sitzen, weil er seinen Körper nicht wahrnimmt wie andere. Weil er seinen Körper nicht wahrnimmt, versteht er vieles nicht. Und weil er nicht versteht, kann er mit sieben Jahren nicht richtig sprechen. „Haufe“ statt „laufe“, „Zieh“ statt „Ziel“: Für Carlo hören sich die Buchstaben „L“ und „H“ gleich an. Und wer das nicht weiß, versteht kein Wort von dem, was er erzählt. Damit er die Schule schafft, braucht er regelmäßige Stunden bei der Logopädin. Wer die in Zukunft bezahlt, weiß niemand.

„Heilmittel“ heißen die Therapien, die nicht länger zur Regelversorgung der Krankenkassen gehören sollen. Die dritte Stufe der Gesundheitsreform, die gestern im Bundestag verhandelt wurde, droht aus gesetzlichen Pflichtleistungen der Kassen freiwillige Gestaltungsleistungen zu machen. Ob Krankengymnastik und Ergotherapie, Reha-Maßnahmen und Logopädie weiterhin auf Krankenschein verschrieben werden, ist „völlig ungeklärt“, bestätigt die Berliner AOK-Sprecherin Gabriele Rähse: „Es kann gut sein, daß es solche Therapien nur noch mit einer Zusatzversicherung gibt. Oder daß sie gar nicht mehr übernommen werden.“

Geld her oder Klappe halten würde das für 251.000 PatientInnen heißen, bei denen bundesdeutsche Ärzte jedes Jahr eine „Sprachstörung“ diagnostizieren. Gut zwei Drittel von ihnen sind Kinder und Jugendliche: Sie stottern oder poltern, nuscheln unverständlich oder können gar nicht sprechen. Betroffen sind auch PatientInnen mit Schlaganfällen oder kranken Stimmbändern, Gehörlose, Unfallopfer, Behinderte oder Leute mit psychischen Problemen. Bis zu zwei Jahre müssen manche auf ihren Therapieplatz warten, weil die Nachfrage deutlich gestiegen ist. Daß es jeden erwischen kann, wissen die Logopäden. Und daß die drohenden Kürzungen mal wieder die Schwächsten treffen.

„Von ganz unten hochgearbeitet“ haben sich die Eltern von Carlo Winkler, erzählt Sabine Pallhorn. Die Vorsitzende des Berliner Landesverbandes für Logopädie ist eine lebhafte Frau mit einem großen Lachmund, die rostrote Klamotten trägt und eine Kette mit modischen Holzperlen. Aus Holz sind auch die Spielsachen um sie herum und das Puppenhaus mit den handgesägten Möbeln, die Kommode mit den geheimnisvollen Schubladen und die Schaukelbalken an der Decke der Praxisräume. Im TheA, dem Therapeutischen Arbeitskollektiv in Berlin- Kreuzberg, kümmern sich insgesamt 11 LogopädInnen und ÄztInnen, PsychologInnen und KrankengymnastInnen um 70 sprachgestörte und behinderte Kinder. Ganzheitliche Betreuung ist angesagt bei dem interdisziplinären Arbeitsteam. Denn Probleme beim Sprechen sind oft nur die Spitze des Eisbergs. Darunter steckt nicht selten sozialer Streß.

Carlo kommt zweimal die Woche ins TheA. Rund 850 Mark kostet das im Quartal, selbst bezahlen könnten seine Eltern nicht. Auf die Therapie verzichten noch weniger. „In den letzten zwei Jahren“, erzählt Carlos Vater, „hat der hier riesige Fortschritte gemacht.“ Vor zwei Jahren haben die Winklers noch gar nichts Ungewöhnliches bemerkt an ihrem Sohn. „Daß er immer rumgerannt ist, manchmal richtig aggressiv wurde, das war schon schlimm. Aber wir haben den immer verstanden und normal mit ihm geredet, in unserer Familiensprache eben.“ Die Sprache der Winklers, das ist eine besondere Mischung: aus Ungarisch, das Carlos Mutter spricht; aus Deutsch, das sie noch lernt; und aus dem, was Carlos Vater „dieses Reden, wo man nie nachgedacht hat drüber“ nennt. Arbeitsloser Altenpfleger ist der freundliche Mann mit den Tattoos an Händen und Ohren, den Bekannte darauf hinwiesen, daß sie Carlo nicht verstehen. „Da war er fünf.“

Reichlich spät für eine Therapie, weiß Sabine Pallhorn, „aber leider nicht untypisch“. Weil verhaltensauffällige Kids viel Zeit beanspruchen bei der Diagnose, rutschen sie leicht durch ärztliche Routinekontrollen. Manchmal ist das kein Problem: Nicht jedes Lispeln muß korrigiert werden, eine eigenwillige Sprache ist auch ein Stück Persönlichkeit. Schwierig wird es erst, wenn die Kommunikation mit der Umwelt abreißt. Und das äußert sich oft durch Aggressionen. Daß kindliche Wutanfälle mit unkontrollierten Bewegungen und Konzentrationsschwächen zusammenhängen, daß Lücken im Wortschatz durch pedantisches Vorsprechen nur noch größer werden, muß die Logopädin den Eltern erklären. „Manche sind sehr besorgt, haben Schuldgefühle, machen richtig Druck“, sagt sie, „und die Kinder sind ganz verzweifelt, weil sie nicht sagen können, was sie wollen. Wenn sie sich ohnmächtig fühlen, hauen sie eben drauf.“

Carlo wird nie korrigiert, wenn er ein Wort falsch sagt. Sabine Pallhorn spricht es einfach richtig nach. Geübt wird auch an der klapprigen Schreibmaschine. Carlo haut auf eine der schwarzen Tasten, dann schauen die beiden nach, welcher Buchstabe auf dem Blatt gelandet ist. Den lesen sie laut ab. Spielerischer Lerneffekt: Abstrakte Laute und konkrete Zeichen gehören zusammen, stehen auf einem Papier, das er anfassen kann.

Was Carlo benennen soll, muß er erst mal fühlen lernen: die glatten, kühlen Bohnenkerne in der gelben Kinderwanne. Oder die schweren Sandsäckchen, die Sabine Pallhorn auf seinem Körper stapelt, wenn die beiden „Sandwich“ spielen. Dann ist Carlo die Bulette, und die Kissen auf ihm sind Käse, Salat und Brötchen. „Manche Kinder brauchen starke körperliche Reize“, weiß die Logopädin, „sie wollen festgehalten werden, damit sie sich selbst spüren können.“

Die Sinne schärfen, die Wahrnehmung erweitern, das geht nicht von heute auf morgen. Geduld ist gefragt und oft jahrelange Betreuung. Auch bei PatientInnen, deren Probleme nicht psycho-sozialer, sondern organischer Natur sind. Denn Sprechsalat kann es auch geben, weil ganze Regionen im Gehirn abgestorben sind. Bei neurologischen Erkrankungen etwa oder beim Schädel-Hirn-Trauma nach einem Verkehrsunfall. Daß sich organisch bedingte Sprechstörungen in den letzten Jahren häufen, ist auch ein Resultat des technischen Fortschritts. Denn die Apparatemedizin läßt immer mehr Menschen überleben, die früher keine Chance hatten: Frühgeburten etwa oder Komapatienten, die ohne Hilfe von Logopäden keinen Draht zur Welt finden.

„Ich konnte drei Wochen kein Wort mehr sprechen und lag nur lächeld im Bett“, erinnert sich Kathrin Bergfeld*. „Einfach zusammengesackt am Schalter“ war die Bankkauffrau aus Berlin-Köpenick. Sechs Stunden dauerte es damals, bis die Ärzte begriffen, was mit der 39jährigen los war: Schlaganfall. Als sie zu sich kam, war sie halbseitig gelähmt, auch im Gesicht. Sie verstand alles, was um sie herum vorging, aber niemand verstand sie. „Plussum“ hieß zum Beispiel das lästige Brett am Fuß ihres Bettes, eines von tausend Dingen, die plötzlich seltsame Namen trugen: „Kein Mensch hat kapiert, was ich wollte.“

Kathrin Bergfeld hat vier Jahre logopädische Therapie gebraucht, um wieder zurechtzukommen in ihrem Leben. Essen und laufen, guten Tag sagen und telefonieren mußte sie lernen, rechts und links von vorn und hinten unterscheiden: „Da fängt man wieder auf der untersten Stufe an.“ Jetzt sitzt sie in einem kleinen Raum mit einem großen Spiegel an der Wand. An der Schule für Logopädie in Berlin-Mitte hat eben die Therapiestunde angefangen. Drei bunte Fotos liegen auf dem Tisch, ein Kind mit einer Obstschale ist zu sehen. Oder ist es ein Obstkorb? Frau Bergfeld ist nicht ganz sicher bei den Vokabeln. Auch die drei Orangen auf dem Foto muß sie abzählen. Rechnen, das ist für Frau Bergfeld „so eine Sache“ geworden. Fragt man die frühberentete Sparkassenangestellte nach ihrem Alter, dann antwortet sie: „Ich bin 10, 20, 30, 40, 41, 42 Jahre alt.“

„Auf der Straße werden viele Aphasiepatienten für verrückt oder für dumm gehalten“, weiß Lehrlogopäde Henrik Bartels. Aphasie, das heißt Verlust des Sprechvermögens – und von allem, was damit verbunden ist. „Daß ich nicht mehr lesen kann, ist das Schlimmste“, sagt Kathrin Bergfeld. Die Frau, die locker erzählen kann, wie sie Pilze sammelt, die aus dem Stand ein halbes Dutzend Sorten aufzählt, versteht die Welt nicht mehr, wenn vor ihr das Wort „Pilz“ steht. Eine ägyptische Hieroglyphe, ein Zeichen ohne Bedeutung. A, B, C, D, E..., das ganze Alphabet spult sie dann in ihrem Kopf ab, bis sie zu „P“ wie „Pilz“ kommt. So buchstabiert sie sich durch Wörter und Sätze, kleine Ewigkeiten kann das dauern.

Was das bedeutet für den Alltag? „Daß ich nicht mehr rausgehe ohne meinen Mann.“ In den Supermarkt traut sich Kathrin Bergfeld nicht allein. Denn da stand sie manchmal ratlos vor dem Regal und fand das Mehl nicht mehr. Die Packung sah plötzlich anders aus, und buchstabieren ging auf die Schnelle nicht. „Die Verkäuferin kann ich auch nicht fragen, wenn mir das Wort nicht einfällt. Dann laufe ich lieber wieder raus.“ Auch mit dem Bus fährt sie nicht allein. Weil sie die Namen auf den Schildern nicht lesen kann. Nur die Strecke zwischen Wohnung und Therapiestunde schafft sie ohne Hilfe: Sie zählt die Stationen.

Die Tricks zum Überleben hat Frau Bergfeld bei ihren LogopädInnen gelernt. Ohne die Therapie würde sie heute vielleicht in irgendeinem Pflegeheim im Bett liegen und vor sich hin lächeln. Was aus Carlo Winkler geworden wäre, wenn niemand mit ihm „Sandwich“ gespielt hätte, kann seine Therapeutin sich ausmalen. „Früher wäre der einfach auf der Sonderschule gelandet. Oder ein Stotterer geworden.“ Oder ganz einfach einer, der zuschlägt, wenn ihn mal wieder keiner versteht.

* Name geändert