Alles nur gute und ehrenwerte Menschen

■ In Tschechien wurde heute erstmals der Senat gewählt. Verdiente Persönlichkeiten jeder Couleur treten zur Wahl an. Doch der „Rat der Weisen“ stößt auf breite Skepsis

Ein teuflischer, zähnebleckender Drache würgt mit seinem meterlangen Schwanz den Kandidaten und stopft ihm mittels des Schwanzendes den Mund. Das Graffiti ziert ein riesiges Wahlplakat, mit dem die Partei des Ministerpräsidenten Klaus für ihren Mann im Prager Bezirk Strahov wirbt. Eine ansprechende Arbeit, aber in Prag die einzige.

Die ersten Wahlen zum Senat der tschechischen Republik werden nicht nur von Graffiti-Künstlern, sondern vom Publikum insgesamt ignoriert. Die Umfragen rechnen mit kaum 50 Prozent Wahlbeteiligung. Schlechte Voraussetzungen für die vielen verdienten Elder statesmen, Chefärzte, Fabrikdirektoren, Schauspieler und sonstigen bedeutenden Persönlichkeiten, die sich um einen Sitz bewerben. Jaroslav Sabata, einer der Großen des „Prager Frühlings“, langjähriger Insasse des Brünner Staatsgefängnisses und nach 1990 kurzfristig Minister, tingelt als unabhängiger Kandidat über die Dörfer Südböhmens. Er ist froh, wenn ihn ein Dutzend Zuhörer beehren. Kommt keiner, ist es auch nicht tragisch. Dann diskutiert er mit seinem Schwiegersohn, dem ehemaligen Menschenrechtsaktivisten und Trotzkisten Petr Uhl über die Aktualität des Satzes, wonach die Herrschaft über Menschen durch die Verwaltung von Sachen zu ersetzen sei. Utopie, regulative Idee oder Anweisung zum Handeln? Wahlkämpfer Sabata, ein beleibter Herr in weinrotem Anzug, blickt ratlos in die Runde der Getreuen.

Diverse Skandale wie der Bankenkrach in Pilsen oder illegale Abhörpraktiken, denen der Vorsitzende der katholischen Volkspartei Lux jüngst zum Opfer fiel, geben in Böhmen und Mähren nur eine matte Wahlkampfbrise ab. In Usti nad Labem, dem alten Aussig, entzündet sich der Streit um die Kandidatur des Sozialdemokraten Ota Neubauer, dem vorgeworfen wird, als Kind unter der deutschen Besatzung des Sudetenlandes der Hitlerjugend angehört zu haben. Neubauer macht geltend, er wäre als schwerbehinderter Junge niemals in die HJ aufgenommen worden, selbst wenn er es gewollt hätte. Und außerdem: das war vor fünfzig Jahren. Sein Gegenkandidat der Bürgerlichen, Petr Cerman, ist anderer Meinung: „Ich denke nicht, daß die Zeit schon gekommen ist, daß Sudetendeutsche im Senat sein können, auch wenn Neubauer kein schlechter Mensch ist.“ Der Sozialdemokrat Neubauer kandidiert, das nationalistische Feuerchen von Aussig konnte keinen Brand entfachen. Gute und ehrenwerte Menschen zu sein, bescheinigen sich auch die Promis, die sich in der Prager Innenstadt als Kandidaten drängeln. Hier, zwischen Kleinseite, Alt- und Neustadt treten Jiři Dienstbier, erst Journalist, nach 1968 Heizer und schließlich der erste Außenminister der Tschechoslowaker nach der samtenen Revolution, der ehemalige katholische Dissident, Philosoph und Mathematiker Václav Benda und der ebenso hochberühmte wie hochbetagte Publizist Pavel Tigrid gegeneinander an. Die drei waren Aktivisten der demokratischen Opposition der Charta 77. Trotz wechselseitiger Wertschätzung hat es zu einer Podiumsdiskussion allerdings nicht gereicht. Vielleicht ist die Einigkeit zu groß. Alle drei Kandidaten wollen den Senat mit ihrer politischen Erfahrung bereichern, sie wollen die schlampige Gesetzesarbeit der ersten Kammer korrigieren und damit den tschechischen Rechtsstaat festigen. Alle sind sie gegen die Einführung der Todesstrafe und dagegen, kommunistische Organisationen zu verbieten. Alle wollen die Aufklärung von Verbrechen unterm Realsozialismus, aber keine Rache. Alle sehen sich dem Gemeinwohl mehr verpflichtet als den Parteien, deren Kandidaten sie sind. Bei den Parlamentswahlen des Sommers hatte die ODS des Ministerpräsidenten Klaus hier 47 Prozent. Wird im Prager Wahlkreis 1 nach Partei- oder nach Persönlichkeitskriterien abgestimmt werden? So wie es aussieht, wird, zumindest im ersten Wahlgang (die beiden Bestplazierten kommen in die Stichwahl), die Parteiorientierung den Ausschlag geben. Präsident Václav Havel hatte sich zu Beginn des Wahlkampfs dafür eingesetzt, den Senat zu einem „Rat der Weisen“ zu gestalten, über der Tagespolitik schwebend, die grundlegenden Ziele des demokratischen Umwälzungsprozesses fest im Auge. Daß daraus nichts werden wird, haben sich die führenden Politiker der Republik selbst zuzuschreiben. Der Senat ist ein Kind, das lustlos gezeugt wurde und dessen Geburt man nach vierjährigen Wehen mit Mißmut entgegensieht. Er war zuerst als kleiner Bestechungsversuch gedacht, damit die Mitglieder der zweiten, föderalen Kammer der Tschechoslowakei nicht arbeitslos würden. Eigentlich hätte man ihn nach der Trennung von der Slowakei gern vergessen, aber er stand nun mal als Institution in der Verfassung. Und einen Mangel an Verfassungstreue wollte sich niemand nachsagen lassen – weder Klaus, der Bürgerliche, noch Zeman, der Sozialdemokrat. Christian Semler