Alle gegen Willi

Nach der Wiederanfahrgenehmigung für das AKW Krümmel steht der grüne Staatssekretär Wilfried Voigt in seiner Partei mit dem Rücken zur Wand  ■ Von Marco Carini

Die Scherben sind noch nicht zusammengefegt. Nachdem der Atommeiler in Krümmel vergangene Woche vom Kieler Energieministerium wieder ans Netz gelassen wurde, sind die Grünen in Schleswig-Holstein in der Atomfrage gespaltener denn je. Im Fadenkreuz: Der grüne Staatssekretär des Ministeriums, Wilfried Voigt. Viele Mitglieder der Öko-Partei sind empört, auch der bei der GAL für Atomfragen zuständige Hamburger Bürgerschaftler Holger Matthews, der Voigt vorwirft, „eine Riesen-Chance zum Ausstieg aus Krümmel ohne Not gegen die Wand gefahren“ zu haben.

In den vergangenen Tagen tourte Voigt daher durch Norddeutschland, um sich den Parteikollegen zu erklären. Wo immer er auftauchte, schlug ihm der Wind frontal ins Gesicht. Längst fordern immer mehr Grüne und Antiatom-Initiativen: „Der Willi muß weg“. Denn was sich in den vergangenen Wochen hinter den Kulissen des rot-grünen Ministeriums abspielte, ist für viele Krümmel-GegnerInnen nicht mehr nachvollziehbar. „Wir sind nicht am Atomgesetz, sondern an der Mutlosigkeit unseres eigenen Staatssekretärs gescheitert“, schimpft etwa die umweltpolitische Sprecherin der Kieler Grünen, Adelheid Winking-Nikolay.

Voigt, so lautet die innerparteiliche Kritik, sei mit seinem neuen Job wohl „hoffnungslos überfordert“. Zu seiner Verteidigung fiel dem Gescholtenen jedoch nur wenig ein: „Ich habe da Mist gebaut“.

Dabei hatte alles so gut begonnen: Noch im August hatte das Bundesverwaltungsgericht den Krümmel-Kritikern im Kieler Energieministerium eine Steilvorlage geliefert, um auf juristisch sicherem Wege der Stillegung des Reaktors einen großen Schritt näher zu kommen.

Der Ausstieg der Bündnisgrünen aus der Atomenergie – ist er nur eine hohle Phrase?

Die Berliner Richter kassierten damals ein Urteil des Oberverwaltungsgerichtes (OVG) in Schleswig, das 1994 eine Klage der heutigen niedersächsischen BUND-Vorsitzenden Renate Backhaus gegen die Einsatz-Genehmigung sogenannter G-11-Brennelemente in Krümmel abgewiesen hatte. Die Schleswiger Kammer, so die Kollegenschelte aus Berlin, hätte der Frage nachgehen müssen, ob es einen Zusammenhang zwischen dem AKW Krümmel und der Leukämiehäufung im kraftwerksnahen Elbmarschgebiet gibt.

Im Kieler Energieministerium löste das Berliner Urteil zunächst verhaltenen Jubel aus. Eine „Korrektur des kernkraftfreundlichen Atomrechts“, witterte etwa Minister Claus Möller (SPD). „Nun hoffe ich auf ein mutiges Urteil des Schleswiger Gerichts“, erklärte Möller damals. Im kleinen Kreis räumte der Minister allerdings bald schon ein, daß er dem Backhaus-Antrag „keine Chance“ gebe.

Er sollte recht behalten. Daß seine Prognose eintraf, daran waren Möller und sein Staatssekretär Voigt nicht unschuldig. Denn eine vom Gericht geforderte Stellungnahme des Ministeriums zu der beklagten Brennelemente-Genehmigung geriet beiden zum Freibrief für den Atomreaktor. „Nach dieser Einlassung blieb dem Gericht gar nichts anderes übrig, als den Backhaus-Antrag abzuschmettern“, klagt der auf Fragen des Atomrechts spezialisierte Hamburger Rechtsanwalt Nikolaus Piontek.

Dabei war – zumindest bei den Grünen – vorher alles anders abgesprochen worden. Aus der Stellungnahme des Ministeriums sollte hervorgehen, daß der Zusammenhang zwischen dem Atommeiler und den Elbmarsch-Leukämien zwar unbewiesen sei, aber nicht auszuschließen. Immerhin hatte Voigt gut ein Jahr zuvor eine Strategie zu Papier gebracht, die nach der Landtagswahl zur Stillegung des Krümmeler Reaktors führen sollte.

Detailliert hatte der Grüne nachgezeichnet, welche Indizien auf Krümmel als Verursacher der Leukämiefälle hinweisen. Mit dem so untermauerten Besorgnispotential, so folgerte Voigt, sei auch der von Möller bislang propagierte Kausalbeweis für die Abschaltung des Atommeilers nicht mehr erforderlich. Bezugnehmend auf die Rechtsprechung zu Whyl und Kalkar hatte Voigt ausgeführt, daß es wegen des Gebots der Schadensvorsorge für eine Stillegung ausreiche, wenn der Zusammenhang zwischen Blutkrebsfällen und Reaktor weder bewiesen noch ausgeschlossen werden könnte.

Entsprechende Fährten, so sagte Voigt seinen Parteifreunden zu, werde das Ministerium in seiner Einlassung für das Gericht legen. Schließlich seien die Grünen gerade dabei, drei Gutachten auf den Weg zu bringen, die sie zur Klärung der Leukämie-Frage für absolut notwendig hielten. Auch die geplante Fall-Kontrollstudie, die morgen beginnen soll, zielt darauf ab, den Zusammenhang zwischen Atommeiler und Blutkrebs-Häufung zu prüfen. „Wir werden diese noch bestehenden Ermittlungs-Lücken dem Gericht aufzeigen“, versprach Voigt.

Als die Stellungnahme des Ministeriums an das OVG bekannt wurde, fiel vielen Grünen der Unterkiefer herunter. Statt weiteren Prüfungsbedarf einzuräumen, stellten Voigt und Möller dem Krümmeler Reaktor eine Unbedenklichkeitserklärung erster Klasse aus. Ihre Kernaussage: Es gebe weder „Ermittlungsdefizite“ noch „Anhaltspunkte“ für „einen möglichen Verursachungsbeitrag des Kernkraftwerkes“ an den Leukämiefällen. Konsequent empfahl das Ministerium dem OVG, die Backhaus-Klage abzulehnen. Das tat, wie ihm geheißen. Postwendend erteilte Minister Möller am Freitag vergangener Woche dem Reaktor die Wiederanfahrgenehmigung. Krümmel-Klägerin Renate Backhaus ist sauer: „Eine Prüfung der Urteilsbegründung war in diesem Zeitraum unmöglich.“

Die Erklärung des Ministeriums – eine schwarze Landesregierung hätte sie atomfreundlicher kaum formulieren können – hat möglicherweise nicht nur für die noch ausstehende Hauptverhandlung im Backhaus-Verfahren weitreichende Folgen. Auch die Chancen einer Klage, die die Ärzte Hayo Diekmann und Hans-Ulrich Clever einreichten, steht nach dieser Krümmel-Absolution auf tönernen Füßen. „Die Einlassung zum Sofortvollzug hat alle juristischen Türen zugeschmissen und die Ausstiegsbemühungen um Jahre zurückgeworfen“, ist Atomrechts-Spezialist Piontek überzeugt.

Der Voigtsche Fehltritt wird auch parteiintern ein Nachspiel haben: Auf dem nächsten Bundesparteitag der Grünen, der Ende November in Suhl stattfinden wird, müssen die Delegierten über einen Antrag zu Krümmel befinden. In dem Papier, das auch die Mitglieder des schleswig-holsteinischen Landesvorstandes der Grünen, Antje Jansen und Ralf Henze, mittragen, heißt es, nach dem Krümmel-Desaster sei für die Grünen nun auch „der letzte Rest an Glaubwürdigkeit dahin“. „Das Gerede vom Ausstieg aus der Atomenergie“, so befürchten die UnterzeichnerInnen, könnte sich „einmal mehr als hohle Phrase“ erweisen.