Haft für „Vaterlandsverräter“

In der Türkei gelten schon Kriegsdienstverweigerer als „Terroristen“. Wer zur Verweigerung aufruft, wird vors Militärgericht gezerrt  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Die unmißverständliche Art, mit der Osman Murat Ülke, Vorsitzender des „Vereins der Kriegsdienstgegner in Izmir“, im vergangenen Jahr auf einer Pressekonferenz zum Antikriegstag seine Meinung kundtat, hatte böse Folgen. „Ich bin kein Soldat, und ich will keiner werden“, hatte Ülke gesagt. Heute sitzt er darob im Militärgefängnis Mamak ein, und sein Verein ist mittlerweile verboten.

Nachdem Ülke seinen Militärpaß öffentlich verbrannt und sich zur Kriegsdienstverweigerung bekannt hat, steht ihm nun der Prozeß vor einem Militärgericht bevor. Ihm drohen bis zu drei Jahren Haftstrafe. Nach seiner Festnahme am 7. Oktober war Ülke mehrere Tage in einer Einzelzelle eingesperrt. Als er einen Hungerstreik begann, wurden ihm Salz und Zucker, beides während eines Hungerstreiks lebensnotwendig, verweigert. Zusätzlich zum Prozeß wegen „Entfremdung des Volkes vom Militär“ will der Militärapparat an Ülke ein Exempel statuieren. Mit physischem Zwang wollen sie erreichen, daß er, der den Militärdienst aus Gewissensgründen ablehnt, die Uniform anzieht.

Ülke ist kein Einzelfall. Eine Vielzahl von Kritikern des Kriegsdienstes werden vor die Militärgerichte gezerrt. Egal ob es sich um junge Leute handelt, die öffentlich erklären, daß sie den Kriegsdienst verweigern, um Künstler, die sich mit ihnen solidarisieren, oder um Journalisten, die Kriegsdienstverweigerer interviewen. Die Schriftstellerin Bilgesu Erenus etwa hatte auf einem Gewerkschaftstreffen gerufen: „Mütter, ich flehe euch an: Schickt eure Kinder nicht in den Krieg.“ Daraufhin wurde sie von einem Militärgericht verurteilt und verbüßte in diesem Jahr eine zweimonatige Haftstrafe. Den Fernsehjournalisten Ali Tecfik Berber und Erhan Akyildiz wurde ebenfalls der Prozeß gemacht, weil sie ein Programm über Kriegsdienstverweigerer gesendet hatten.

„Die Türken sind ein Soldatenvolk“, verkünden türkische Politiker stolz. Bereits in der Grundschule lernen Kinder Militärmärsche auswendig. Kriegsdienstverweigerung gilt in der Türkei als „Verbrechen erster Ordnung“. Der Artikel 155 des türkischen Strafgesetzbuches, der über „Entfremdung des Volkes vom Militär“, fiel bis 1993 in den Zuständigkeitsbereich der Staatssicherheitsgerichte, die „Verbrechen gegen den Staat“ ahnden.

Seit drei Jahren wird jedoch nicht einmal mehr vor den formal immerhin „zivilen“ Staatssicherheitsgerichten verhandelt (wo allerdings auch zahlreiche Militärrichter tätig sind), sondern direkt vor Militärgerichten. Zivilisten, selbst wenn sie nicht „fahnenflüchtig“ sind, werden ohne weiteres wegen Publikationen oder Reden vor Militärgerichten angeklagt. Kriegsdienstverweigerer sind nach Meinung der Militärs ohnehin Deserteuren gleichzustellen: als Vaterlandsverräter.

Der Grund für das harte Vorgehen gegen Kriegsdienstverweigerer liegt außer in der extremen Militarisierung der türkischen Gesellschaft auch im anhaltenden Kriegsgeschehen in Kurdistan. Über zwanzigtausend Menschen sind bei bewaffneten Kämpfen zwischen der Armee und der kurdischen Guerilla PKK gestorben. Viele Jugendliche entziehen sich dem Dienst an der Waffe, weil sie fürchten müssen, in die kurdischen Regionen im Südosten der Türkei geschickt zu werden. Rund 200.000 junge Männer sollen heute „fahnenflüchtig“ sein. Politiker und Generalstab sind „beunruhigt“ und sehen sich legitimiert, Männer wie Ülke, die sich öffentlich gegen den Kriegsdienst auflehnen, hinter Schloß und Riegel zu bringen.