Maggie Thatchers Krähenfüße

Stadt im Kino (VI): Auf den Straßen und in den Pubs passen Eurotrash und funzelige Gaslaternen noch zusammen – Filme über London sehen dagegen eher nackt und kalt und ruiniert aus  ■ Von Harald Fricke

Abends scheint ganz London in einem Moment aufzuleben. Wenn die Leute vor den Pubs von Soho mit einem Glas Lager in der Hand betrunken auf dem Gehsteig stehen und vorbeifahrenden Cabrios etwas Unanständiges hinterherrufen – dann fügt sich all das Treiben ins viktorianisch geordnete Straßenbild vor dem „Spice of Life“, dort, wo sich Shaftsbury Avenue und Charing Cross Road kreuzen. Der üble Sound von Eurotrash paßt plötzlich zu den funzeligen Gaslaternen, die schlechte Luft zum öligen Leitungswasser auf den überschwemmten Toiletten, das gelbe Polyesterhemd am Nachbartisch zur Dartscheibe hinter dem Tresen, und die Schnulzentexte aus der Jukebox könnten aus Victor Hugos „Les Miserables“ stammen, das seit einer Ewigkeit im Theater nebenan gespielt wird.

Wie auf Eisschollen hüpft man ziellos zwischen Alltag, Pop und Erinnerungen hin und her, um irgendwann doch vollends in die Vergangenheit abzustürzen. Für die einen ist es dann die Freude über ein Tor von George Best, mit dem Manchester United den Cup holte; ein anderer grummelt „London Calling“ in sich hinein; und wieder ein anderer weiß einen Laden, wo man nach elf Uhr weiter Bier bekommt, denn für die Clubs ist es noch zu früh.

Diese auf angenehm britische Art rauhe und doch sehr heimelige Atmosphäre findet man im Film selten wieder. Dort gleicht das London-Bild seit Stanley Kubricks „Clockwork Orange“ vor 25 Jahren einem urbanen Katastrophengebiet, das zwischen Mensch und Architektur keinen Unterschied macht. Bei Leigh, Loach oder Jarman stapeln sich in jedem Winkel Psychos, Wracks und leere Bauruinen – Krähenfüße des Thatcher- Kapitalismus, die kein noch so schmuckvoller Panoramaschwenk über Big Ben, Tower und London Bridge mehr glätten kann. Statt dessen wirkt die Stadt nackt und kalt. Sogar der schummerige Nebel ist verflogen, seit die letzten Kohleöfen gegen elektrische Heizlüfter ausgewechselt wurden.

Auch Patrick Keillers Dokumentarfilm „London“ von 1994 bleibt solchermaßen auf Distanz. Vor den Pubs ängstigt sich der Kunst-Dozent, weil er den Menschen nicht mehr traut, die eben noch über den Niedergang ihres Empire lachten und doch John Major wählen. An den neuen Telefonzellen, die statt aus rotem Gußeisen lediglich von grauen Plastikhauben ummantelt sind, vermißt er wiederum die hineinurinierte Duftnote des Proletariats, das für ihn am Ende des 20. Jahrhunderts ohnehin ausgestorben ist.

Die Kulturindustrie macht melancholisch

Keillers Erzähler erlebt die Fremdheit im Film gleich doppelt. Sieben Jahre war er auf See und findet nun nicht wieder in die Stadt zurück. Ein Freund will ihm mit einer tagebuchartig angelegten Reise helfen: Beide durchwandern ein Jahr das London von heute auf der Suche nach Romantik und Dandytum, nach Marx, Engels und Rimbaud. Immerhin war die Stadt im 19. Jahrhundert von 825.000 auf 6,5 Millionen Einwohner angewachsen – Quantensprünge im Sozialen inklusive. Doch auf ihren Expeditionen begegnen die Flaneure nur einsamen McDonald's-Filialen und sprechenden Friedhofstoren. Vom französischen Philosophen und Bildungsreformer Montaigne ist bloß der Name für eine Sprachenschule erhalten geblieben, und der Zeichner William Hogarth muß als Denkmal zwischen lauter Großkinos am Leicester Square ausharren. Das Industriezeitalter, einmal in Kulturindustrie überführt, macht melancholisch. Keiller aber weiß, warum die neue City-Culture leblos bleibt: Niemals wird man in der Bank of England zu Discomusik tanzen können.

Erstaunlicherweise findet sich umgekehrt die Skepsis über London als Popmetropole bereits 1967 bei Michelangelo Antonioni. An „Blow Up“ werden zwar gerne die sehphilosophischen Ambivalenzen von Schein und Sein diskutiert. Aber in einer kurzen Szene geht der italienische Regisseur auch auf die absehbare Gentrifizierung ein. Auf dem Weg von dem Antiquitätengeschäft am Maryon Park zum Atelier hinterläßt David Hemmings, der mürrische Beatfotograf, seinem Mäzen eine Nachricht. Kurz schildert er die Gegend und daß man den Preis für den Laden sicher herunterhandeln kann, schließlich „leben hier bloß Spießer mit ihren Pudeln“. Tatsächlich grenzt die Gegend, in der „Blow Up“ gefilmt wurde, unmittelbar an die Royal Docklands südlich der Themse, wo heute Quadratkilometer an Büroraum leerstehen. In den dazugehörigen Rohbauten spielte sich 1978 auch Derek Jarmans „Jubilee“ ab.

Inzwischen haben sich Filme über London jedoch auch von dieser Zombiearchitektur verabschiedet, neben der selbst die Siegessäule utopisch aussieht, wenn bei Wenders die Engel im Morgengrauen drum herumfliegen. Wer in London filmt, nimmt die Stadt nur mehr als Kulisse für Schicksalsgeschichten wahr, die sich an den gesellschaftlichen Rändern ereignen – egal ob er nach Dr. Jekyll, Jack the Ripper, Beat, Punk oder Trainspottern sucht.

Mal sind es in „Mary Reilly“ die immer moderigen Gassen aus Dickens-Romanen, durch die der verfluchte Doktor in die Nacht flieht, dann wieder schwingen die Sixties mit, wenn Hanif Kureishi nach ideologischen Resten aus der Zeit von „Blow Up“ sucht und dabei harte Drogen findet; oder die Menschen schütten sich einfach zum Sound von Who, Glamrock und Blondie zu, wie in „Quadrophenia“ oder „Ladybird, Ladybird“.

Stets ist man tief unten und findet den Weg nach oben nur deshalb nicht, weil die Stadt – und mit ihr das ganze rottende Königreich – sich gegen ihre Bewohner sperrt. Keiner hilft keinem: Auf diese Formel läuft es scheinbar bei jedem Film über London hinaus, von „Clockwork Orange“ bis zu Rentons Abgang in „Trainspotting“. Das macht auf Dauer auch die Filme mürbe. Nach einer halben Stunde haben sich in Mike Leighs „Naked“ die Bilder von Großstadtodyssee, Schmutz und Verzweiflung ebenso rasant aufgebraucht wie die Figur des zerrupften Gossenpredigers als einem zeitgemäßen Prometheus, der zur Strafe sein wahres Leben eben im falschen aushalten muß. Vielleicht liegt es am Mißmut der Generation von Loach und Leigh, die als Filmemacher ein wenig verloren zwischen Swinging London und der Depression nach 15 Jahren Tory- Regiment dahintreiben. Selten nur dürfen ihre Protagonisten überhaupt handeln, bevor das Leben nicht völlig beschädigt ist. Was bleibt, ist stummes Leid im ungemütlichen Ambiente des sozialen Wohnungsbaus. Vielleicht hat aber auch Hanif Kureishi recht, wenn er in „London kills me“ zeigt, wie die Jugend an der Portobello Road allmählich zu spindeldürren Psychopathen verkümmert, die sich mit Heroin kaum über den Tag retten können und doch lieber zum Ballett gehen würden. Es geht um Widersprüche, die sich nicht im Popgalopp auflösen: Keine Stadt außer London lebt so sehr vom Ruf als Jungbrunnen der Rebellion, während man zugleich Gesetze gegen Massenraves verabschiedet, das Bildungssystem schleifen läßt und Homosexualität im Alter unter 21 Jahren weiter strafbar bleibt. Andererseits geht dieser prächtig schillernde Mythos ewiger Jugend mit einem gehörigen Maß an Vampirismus einher, wie man bei David Bowie, Peter Greenaway oder Vivienne Westwood sieht. 35 Jahre Beatles, 20 Jahre Punk – Stadt, wo ist dein Stachel?