Verbalfick verboten

■ Skandalurteil von Provinzrichtern: Wegen "Beleidigung der Polizei" sollen zwei französische Rapper in den Knast

Wenn die neogaullistische Elite am Samstag im Panthéon auf der schicken Rive Gauche zusammenkommt, um André Malraux via Umbettung ins Heldendenkmal 20 Jahre nach seinem Tod die zweite letzte Ehre zu erweisen, hat die Jugend des Landes ein Stelldichein im proletarischen Osten von Paris. Sie wird an der Place de la République demonstrieren, um die Gangstarapper Kool Shen alias Bruno Lopes und Joey Starr alias Didier Marville vor Zensur, Gefängnis und Berufsverbot zu bewahren. Voraussichtlich werden dabei massenhaft Stinkefinger erhoben und aggressive Lieder gegen Polizei, Justiz und Staat gesungen werden.

Nique ta mère – Fick deine Mutter – ist der Name der populären Vorstadtband. Bekannter ist sie unter dem Kürzel NTM. Ein Richter in der südfranzösischen Provinzstadt Toulon hatte ihre beiden Sänger am vergangenen Donnerstag wegen „Beleidigung der Polizei“ zu je drei Monaten Gefängnis plus drei Monaten Bewährung sowie einem sechsmonatigen Auftrittsverbot verurteilt. Mit der Sanktion, die auf dem neuen Strafgesetzbuch fußt, löste er Zustimmung bei großen Teilen der französischen Rechten, aber auch eine Protestwelle sondergleichen aus. Letztere reicht von den beiden größten Jugendorganisationen des Landes – die jungen christlichen Arbeiter und die jungen Kommunisten – über alle linksoppositionellen Gruppen bis hin zu vielen Richtern, Künstlern und selbst einigen Politikern aus dem Regierungslager.

Der Anlaß für die Aufregung über das härteste Urteil, das es in der französischen Musikgeschichte dieses Jahrhunderts gab, liegt eine Weile zurück. Am 14. Juli 1995 hatten NTM in La Seyne-sur-Mer an einem Festival gegen den wenige Wochen zuvor gewählten Bürgermeister von der rechtsextremen Front National in der Nachbarstadt Toulon teilgenommen. Vor 10.000 Zuschauern zeigten Kool Shen und Joey Starr mit dem Finger auf die anwesenden Polizisten und gaben – zwischen zwei Liedern – folgende Erklärung ab: „Faschisten gibt es nicht nur in Toulon. Polizisten sind Faschos. Mörder. Sie sind meist zu dritt unterwegs. Sie sind blau angezogen und fahren Renault 19. Sie sind gar nicht weit von euch. Da hinten, am Eingang. Diese Leute sind gefährlich für unsere Freiheit. Die Leute in Blau sind unsere Feinde.“ Anschließend sangen die beiden das (nebenstehend abgedruckte) Stück „Police“.

Die Banlieue meldet sich zu Wort

Das reichte. Die knapp 30 Polizisten erstatteten Anzeige wegen Beleidigung. Einer von ihnen beschreibt die Situation bei dem Festival als ausgesprochen bedrohlich. Tausende hätten sich haßerfüllt nach ihnen umgedreht. „Wenn da was passiert wäre, hätten wir weglaufen müssen“, erklärte Polizist Roger dieser Tage dem Boulevardblatt Le Parisien.

Für Kool Shen (30) und Joey Starr (29) war es nicht die erste Begegnung mit der Polizei. Die beiden ehemaligen S-Bahnsprayer und Fußballer aus der Pariser Vorstadt haben ihre Band im Jahr 1990 gegründet, als in Vaulx-en-Velin bei Lyon die Barrikaden brannten und das französische Establishment über ein Phänomen rätselte, das man in dieser Art nur aus den USA kannte. NWA (Niggaz With Attitude) geben NTM als eines ihrer Vorbilder an, jene Rapgruppe, die ihrerseits ein Stück mit dem Titel „Fuck the Police“ im Repertoire hat. In den USA gibt es trotz Anti-Schmutz-und-Schund-Kampagnen, trotz der Proteste gegen Ice-Ts Titel „Cop Killer“ im Jahr 1993 noch keine Verurteilung von Gangstarappern wegen Polizistenbeleidigung. NTM in Frankreich hingegen mußten sich schon oft auf Polizeikommissariaten erklären.

Dabei waren NTM der großen Öffentlichkeit bislang kaum bekannt. Die meisten Radio- und TV-Sender hatten die Band in vorauseilender Selbstzensur gar nicht erst im Programm. Zeitungen schrieben ihren Namen – einen im umgangssprachlichen Französisch gebräuchlichen Ausdruck – erst gar nicht aus. Konzertveranstalter übergingen die Gruppe – oder luden sie wieder aus, wie in diesem Frühjahr in Toulon, als die Front National NTM der „Beleidigung der Würde der Frau und Mutter“ bezichtigte und der konservative Präfekt daraufhin Ordnungsprobleme befürchtete.

In den vergangenen Tagen hat die Karriere der beiden Gangstarapper enormen Aufwind bekommen. Ihre drei Alben – „Authentiks“ (1991), „J'appuye sur la gachêtte“ (1993) und „Paris sous les Bombes“ (1995) gehen weg wie warme Semmeln. Leute, die eigentlich sanftere Rapvarianten bevorzugen oder einen völlig anderen Musikgeschmack haben, kaufen jetzt aus Solidarität und Neugierde NTM. Und selbst Oppositionelle, die NTM einst wegen „Gewaltaufrufen gegen die Polizei“ kritisiert hatten, sehen sich jetzt genötigt, zu ihrer Unterstützung anzutreten.

NTM ist keineswegs das Aggressivste, was die französische Rockszene zu bieten hat. Sie sind auch nicht die erste Band, die mit Beleidigungen gegen die Polizei antreten. Am rechtsextremen musikalischen Rand tummeln sich Bands, die außerdem noch antisemitisch sind.

Eine davon trat kürzlich bei einem Festival der ebenfalls Front- National-regierten Stadt Orange auf. Fraction Hexagone durften da ungestraft singen: „Eine Kugel für die Semiten, eine Kugel für die Kosmopoliten, eine Kugel für die P..“ – gefolgt von einem durchdringenden Pfeifton.

Der Anwalt der beiden verurteilten NTM-Rapper hat Berufung eingelegt. Ihre Urteile sind zunächst ausgesetzt. Der französische Kulturminister und sein für die Justiz zuständiger Kollege haben sich beschwichtigend für die „Ausdrucksfreiheit“ ausgesprochen. Und niemand in Frankreich glaubt daran, daß die beiden tatsächlich ins Gefängnis kommen.

Aber der Schaden ist längst da. Der Provinzrichter in Toulon, der früher einmal Polizeiinspektor war, hat es in dem konservativ gewordenen Klima geschafft, die französische Kultur, deren einstiger ministerieller Fürsprecher Malraux am Samstag ins Panthéon umgebettet wird, zu lädieren. Dorothea Hahn, Paris