Hungerstreik gegen Hungerlöhne

■ In Estland drohen die Arbeiterinnen in Europas größter Textilfabrik einen regionalen Generalstreik auszulösen

Tallinn (taz) – Die vor zwei Jahren an einen schwedischen Konzern verkaufte Textilfabrik Kreenholm – sie ist Europas größte – gilt bei der Regierung in Tallinn als Musterbeispiel der geglückten Privatisierung in Estland. KritikerInnen sehen die Verbindung von Hungerlöhnen und unzumutbaren Arbeitsbedingungen eher als besonders abschreckendes Beispiel für die Möglichkeit, eine schnelle Mark im Osten zu machen. In Kreenholm ist in dieser Woche ein Streik ausgebrochen, der sich zu einem nationalen Problem für ganz Estland entwickeln könnte.

Eigentlich wollte hier am vergangenen Montag bereits die gesamte Belegschaft von 5.000 Angestellten, fast durchweg Frauen, in den Streik treten. Um dem schwedischen Borås-Konzern eine letzte Chance zu geben, hat zunächst nur die Gewerkschaftsspitze stellvertretend für die Belegschaft einen Hungerstreik begonnen. „Wir sind völlig verzweifelt“, so die Gewerkschaftsvorsitzende Julia Dmitrijeva, „und daher zu allem bereit.“

Rund 200 Mark im Monat verdienen die meisten Frauen bei Kreenholm – ein Drittel des Durchschnittslohns in der estnischen Industrie. Die aktuelle Inflationsrate pendelt um 20 Prozent, doch das Kreenholm-Management war zu keiner Lohnerhöhung bereit.

Um ihre Familien ernähren zu können – die Hälfte der Männer in Narva sind arbeitslos –, sind viele der bei Kreenholm arbeitenden Frauen dazu übergegangen, zwei Acht-Stunden-Schichten zu arbeiten. Das hat laut Dmitrijeva zu „lebensgefährlichen Ermüdungsunfällen“ im gefährlichen Arbeitsmilieu der Fabrik geführt. 17 Prozent hatten die Frauen als Lohnzuschlag gefordert.

Kreenholm ist der größte Arbeitgeber im zu 95 Prozent russischsprachigen Narva. Wegen des ungeklärten staatsbürgerlichen Status der russischen Bevölkerung in Estland ist die Stimmung in Narva sowieso gespannt, der jetzige Ausstand kann nach Einschätzung der Narvaer Lokalzeitung Pohjjarnnik daher schnell zu einem Generalstreik in ganz Nordostestland führen. Und nicht nur für die russischsprachige Bevölkerung soll Kreenholm offenbar ein Test werden: Mehrere Einzelgewerkschaften des estnischen Gewerkschaftsbunds, an ihrer Spitze die Bergarbeitergewerkschaft, haben den Kreenholm-Frauen Unterstützung versprochen. Reinhard Wolff