„Uns fehlten doch nur fünf Minuten“

Im Prozeß gegen Safwan Eid versucht seine Anwältin Gabriele Heinecke, die Zeugen, die ihn belasten könnten, herabzuwürdigen und brisante Aussagen zu Bagatellen zu erklären  ■ Aus Lübeck Jan Feddersen

Der Angeklagte sitzt auch am diesem Verhandlungstag wie teilnahmslos neben seiner Verteidigerin Gabriele Heinecke. Ihm wird vorgeworfen, für den Brand im Flüchtlingsheim in der Lübecker Hafenstraße verantwortlich zu sein. Zehn Menschen kamen dort in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar ums Leben.

Der Zeuge Walid El-Omari nimmt in der Mitte der Gerichtssaals Platz. Safwan Eid hört auf, sein Kaugummi zu kauen. Knetet seine Hände, ruckelt mit dem Stuhl hin und her. Sein Lächeln, das er stets zeigt, wenn er mit seiner Anwältin den Gerichtssaal betritt und ihre schwere Aktentasche trägt, ist verschwunden. Gabriele Heinecke sitzt bewegungslos und kerzengerade auf ihrem Stuhl, als der Zeuge berichtet.

Was Walid El-Omari sagt, wiegt schwer. Nicht, daß er sich um halb elf vor dem Brand schlafen gelegt hat, macht alle Zuhörer still. Nicht sein Bericht allein, wie er durch seinen Bruder geweckt wurde — „Wacht auf, wacht auf!“ — ließe jede Stecknadel vernehmlich zu Boden fallen. Auch nicht, daß er seiner Frau zugerufen habe, sich ein Kissen vor das Gesicht zu legen, um nicht zu ersticken, sorgt für Unruhe. Alles schweigt: Noch einmal wird das Grauen spürbar, das im Asylbewerberheim geherrscht haben muß in jener eiskalten Januarnacht.

Erst als Walid El-Omari bekundet, im Krankenhaus, „noch unter Schock“, von Mitgliedern der Familie Eid Besuch bekommen zu haben, kommt verhaltenes Murmeln von den Zuhörern. Die Eids hätten ihm, der damals noch nicht wußte, daß sein Bruder Rabie bei dem Brand ums Leben kam, erzählt, es sei eine Bombe gewesen, die die Katastrophe ausgelöst habe. Und: Bei einer zweiten Visite — da saß Safwan Eid bereits in Untersuchungshaft — habe ihm der Vater des Angeklagten, Mahwan Eid, dringend ans Herz gelegt, 2.30 Uhr für die Tatzeit zu halten.

„Wir sollten sagen, es brannte ab 2.30 Uhr.“

Da sei er — seine Mutter hatte am letzten Prozeßtag Ähnliches berichtet — mißtrauisch geworden: Wenn das Feuer schon viel früher, als im Fernsehen behauptet, ausgebrochen sei, dann frage er sich, weshalb Mahwan Eid ihn nicht schon früher alarmiert habe. „Fünf Minuten haben doch nur gefehlt, um uns alle zu retten“, sagt er knapp. Zehn Wochen lag er selbst im Krankenhaus — mit schweren Verletzungen am Rücken, mit einem doppelten Beckenbruch, der nie wieder ganz heilt: „Ich habe immer noch Schmerzen.“

Als die El-Omaris etwa einen Monat nach Walids Krankenhausaufenthalt einen Anruf von Mahwan Eid erhielt, doch bitte Journalisten zu empfangen, sei er hellhörig geworden: „Wir wußten nicht, woher die Journalisten unsere Telefonnummer hatten.“ Verlangt habe der Vater des Angeklagten, die Kinder der El-Omaris sollten den Monitor-Reportern sagen, daß ein Fenster des Vorbaus geöffnet gewesen sei. Walid El-Omari sagt: „Doch das stimmt nicht.“

Staatsanwalt Michael Böckenhauer weiß genau, daß an diesem Detail ein gutes Stück des Fadens hängt, der die Theorie hält, nach der der Brand von außen gelegt worden sein könnte. Er hakt nach: „War das Fenster nie kaputt?“ Doch, meint der Zeuge, einmal sei eine Scheibe bei einem Fußballspiel zu Bruch gegangen. Böckenhauer: „Wie lange hat es gedauert, ehe die Scheibe wieder eingesetzt wurde?“ El-Omari: „Einen Tag.“

Damit ist die Annahme der Verteidigung erschüttert, das Haus an der Lübecker Hafenstraße sei ein Gebäude gewesen, das schutzlos jederzeit allen Menschen offenstand. Schon Assia El-Omari, die Mutter des Zeugen, hatte berichtet, daß sie, die fürs Fensterputzen im Hause zuständig war, sich nicht an zerbrochene Scheiben erinnert. Um sie von außen zu reinigen, hätte sie vor die Tür gehen müssen.

Die Menschen auf den Zuhörerstühlen blicken ratlos. Die meisten von ihnen gehören jenem Kreis an, der glaubt, die Schuld an dem Brand liege bei den Grevesmühlener Neonazis. Nun müssen sie hören, daß Walid als Mitglied der Familie El-Omari von den Angehörigen des Angeklagten auf eine Ereignisversion eingeschworen werden sollte, die er nicht bestätigen kann — und will. Schon vor vier Wochen hatten sich die El-Omaris das Mißtrauen des Unterstützerkreises für Safwan Eid eingehandelt, als sie sich weigerten, die Solidaritätserklärung für die Angeklagten mit zu unterzeichnen.

Auch erfahren die Zuhörer heute mehr über den Streit, der Ende September vor Gericht schon einmal hochkam. Damals hatte Mahwan Eid die El-Omaris beschimpft — wissend, daß er von ihnen bei der Staatsanwaltschaft kurz nach der Entlassung seines Sohnes aus der Untersuchungshaft am 2. Juli belastet worden war.

Nach einer fünfminütigen Pause beginnt Gabriele Heinecke den Zeugen zu vernehmen. Sie läßt sich jedoch nicht auf den Sachverhalt ein, sondern beginnt mit einem Angriff auf die Dolmetscherin. Sie bestreitet deren Kompetenz und fordert, daß ein anderer Übersetzer die Aussagen Walid El-Omaris zu Gehör bringt. Sie bellt ins Mikrophon: „Übersetzen Sie richtig!“ Der Zeuge lehnt den verlangten Austausch des Dolmetschers ab: „Sie ist Libanesin, sie versteht unsere Sprache. Der andere kommt aus Ägypten.“ Ihre eigenen Fragen indes stellt sie so umständlich und in einem Deutsch, das selbst Germanisten ins Nachdenken brächte. Und sie macht nur selten Pausen in ihren Ausführungen: Die Übersetzerin kommt kaum mit. So sieht es aus, als sei sie wirklich überfordert.

Heinecke scheut sich nicht, mit doppelten Negationen zu arbeiten. Die Übersetzerin ist so etwas nicht gewohnt. So fragt die Libanesin gelegentlich auch selbst nach. Das darf sie nicht — aber das hatte die Anwältin sonst auch nicht moniert, solange es um weniger brisante Zeugen ging. Jetzt aber wird sie scharf. Sie ist nervös. Das muß sie auch sein. Denn der Vater, der wichtigste Angehörige ihres Mandanten, hat offenbar versucht, Zeugen auf eine Linie zu bringen, die sich mit der Wirklichkeit kaum in Einklang bringen läßt: Nach allen bisherigen Erkenntnissen kann das Feuer nicht um 2.30 Uhr gelegt worden sein, sondern erst etwa eine Stunde später.

Jetzt will Gabriele Heinecke wissen, was der Zeuge unter einem gutnachbarschaftlichem Verhältnis verstünde. Er sagt: „Normal.“ Eine absurde Antwort, aber er will nur betonen, daß ihm nichts Besonderes aufgefallen war. Zudem komme er aus einer Großfamilie, „da hatten wir nicht nötig, bei anderen Kontakt zu suchen“.

Immer schneidiger agiert die Anwältin. Sie will nicht verstehen — und nutzt es aus, daß der Zeuge ihre Frage nicht begreift. Seine Mutter springt ihm bei: „Normal“, ruft sie ungeduldig. Erregt streckt sie ihren Arm vor: Normal sei das Verhältnis gewesen. Richter Rolf Wilcken schaltet sich ein: „Sie dürfen jetzt nichts sagen.“ Assia El- Omari schweigt. Ihr Sohn hat ihr ein Zeichen gegeben, ruhig zu bleiben. Gabriele Heinecke aber fragt ihn, sehr langsam: „Brauchen Sie Ihre Mutter, um ,normal‘ zu definieren?“

Auch der Mutter, Assia El- Omari, hatte Heinecke die Glaubwürdigkeit abgesprochen. Sie hat dies in der letzten Woche in schöne, dennoch entmündigende Worte gepackt: Man merke der Zeugin an, daß sie psychisch sehr angespannt sei und unter großem Druck stehe. Ihre Aussagen widersprächen kraß ihren Worten aus den ersten Vernehmungen. Die Anwältin hat dabei gelächelt.

Daraus ist ihr kein juristischer Vorwurf zu machen. Sie muß ihren Mandanten verteidigen, das hat sie sich vorgenommen, das ist ihr Beruf. Und ihre Berufung. Sie glaubt tatsächlich, daß der Brand von Neonazis gelegt wurde und daß die Deutschen sich mit der Anklage gegen Safwan Eid von einem schlechten Gewissen freisprechen wollen. Schon deshalb darf sie nichts unversucht lassen, Zeugen hart zu prüfen, die ihrer These im Wege stehen.

Nun fragt sie Walid El-Omari, ob er Angstzustände habe. Er verneint. Dann zieht sie aus ihren Akten einen ärztlichen Bericht von El-Omaris Hausarzt, der eine psychologische Betreuung seines Patienten für nötig hält. Walid El- Omari hört erstmals von diesem Schreiben. Er stutzt. Verschränkt seine Arme. Sagt: „Ich bin fünfmal operiert worden.“

„Ich habe Schmerzen von den fünf Operationen.“

Nun verwickelt ihn Heinecke in eine Diskussion um den Befund seines Hausarztes. Der Zeuge versteht kaum, worum es geht. Er wirkt aber nicht genervt, sondern wie ein Schuldiger bei einem Verhör. Er sträubt sich. Heinecke will knapp wissen, warum er um psychologische Hilfe nachsuche und doch keine Angstzustände kenne.

Staatsanwalt Böckenhauer interveniert, dem Zeugen dürfe nicht bis in den persönlichen Bereich hinein nachgestellt werden. Heinecke: „Die Frage muß ich stellen, es geht um seine Glaubwürdigkeit.“ Richter Rolf Wilcken schweigt. Offenbar will das Gericht keinen Anlaß geben, zum Gegenstand eines Befangenheitsantrags zu werden. Böckenhauer sieht den Paragraphen 68a der Strafprozeßordnung berührt, nach dem man sich strafbar machen kann, wenn man einen Zeugen in seiner Ehre bloßstellt. Gabriele Heinecke sagt nur: „Wir haben keine Straftat begangen. Ob das auch bei der Staatsanwaltschaft immer so war, weiß ich nicht.“