■ Zur Einkehr
: Bei Ferrari

Irgendwann, im Dezember meist, hängt ein weißes Papier-Spitzendeckchen im Fenster, auf dem der definitive Beginn der dunklen Jahreszeit angekündigt wird. Irgendwann an einem tristen Dezemberabend wird dann ohrenbetäubender Lärm nach draußen dringen, und die große Schaufensterscheibe wird beschlagen sein, und Toni wird auf dem Tresen Samba tanzen. Der Abschiedsabend, wie in jedem Jahr. Der Abschied vom Zeitschriften-Studium am Feierabend, bei Espresso und Vecchia Romagna. Der Abschied vom Samstag, wenn der Cappucino getrunken und italophon parliert werden will: Ciao, dottore – due (und Toni weiß dann schon, was gemeint ist) – prego – grazie – ciao, bella. Baci links, baci rechts. Hach, das ist doch Leben! Beziehungsweise dolce vita! Wenn sich die Ferraristi treffen. Zu Deutsch: Freunde des ziemlich großartigen Eiscafés Ferrari vor dem Steintor.

Traurig werden sie sein, ab irgendwann im Dezember, gute zwei Monate lang. Triefäugig werden sie durchs Viertel schleichen und einander bedauernde Blicke zuwerfen. Heimatlos, besonders samstags. Bis, ja bis sich wieder Leben hinter der großen Schaufensterscheibe zu regen beginnt. Irgendwann im Februar. Bis Pietro Ferrari und Toni die jährlichen Renovierungsarbeiten starten. Winken, juchu, fragende Blicke, wann gehts denn endlich wieder los, erwartungsvolles Naseplattdrücken. Bis wieder ein weißes Spitzendeckchen im Fenster hängt und den Beginn des Frühlings verkündet. Allealle werden dann wieder da sein, und der Tresen wird überquellen vor Freudenblumen. Ferrari hat wieder aufgemacht!

Stimmt schon: Es gibt Eiscafés, bei denen das Eis vielleicht besser schmeckt. Stimmt schon: Wenn es draußen kalt ist und die Eingangstüre dicht, dann sieht man oft wegen des Zigarettenqualms die Hand kaum vor Augen. Und der Krach der dicht an dicht hockenden BremerInnen ist italienisch-infernalisch. „Zeit“ und „Spiegel“ sind dann auf Stunden ausgebucht. Aber das scheint der Liebe der Ferraristi zu „ihrem“ Eiscafé keinen Abbruch zu tun. Im Gegenteil, und das mittlerweile fast 25 Jahre lang.

Sie kommen wegen des exzellenten Cappucino. Schon. Aber sie kommen vor allem, weil sie schon immer gekommen sind. Und weil sie unverbrüchlich genau diejenigen treffen, die ebenfalls schon immer gekommen sind. Familien zerfallen, Menschen trennen sich, die Versinglelung greift um sich – da braucht es halt doch was Verläßliches. Und wenn es bloß ein Eiscafé ist. Aber was heißt da schon bloß? Immerhin: dolce vita! J.G.