Schweigen über die Vergangenheit

Nichts erinnert in der Schwäbischen Straße 3 in Schöneberg an die deportierten jüdischen Hausbewohner. Das wollen einige Mieter ändern. Doch in der Hausgemeinschaft gibt es Desinteresse an der Geschichte und Widerstand gegen eine Gedenktafel  ■ Von Jens Rübsam

„Lange Zeit ist in Deutschland die Verantwortung für den Holocaust als Thema tabu gewesen, und auch heute gibt es Tendenzen, weiter zu schweigen oder wieder zu schweigen.“

Selbsthilfegruppe

„Kinder von Tätern“

Unheimlich, hat Frau Storandt gesagt. Unheimlich sei dieses Haus. Unheimlich die Atmosphäre. Unheimlich dieser Trott, in dem die Menschen hier leben würden. Vorhin, da hat sich Frau Storandt zurechtgerückt in ihrem schwarzen Ledersessel, hat die Beine übereinandergeschlagen, den Zeigefinger fest an die Stirn gedrückt und gemeint: „Es ist so, als ob in diesem Gemäuer noch etwas von damals steckt.“ Manche im Haus sagen, Frau Storandt sei etwas merkwürdig.

Dieses Haus liegt in der Schwäbischen Straße 3 in Schöneberg. Ein graues Paket, groß und viereckig, eine schmucke Eingangstür aus Glas, viele runde Fenster, schön ordentlich mit weißen, langen Gardinen verhangen. Außen kleine Balkone, im ersten Stock rechts, bei Frau Horst, blühen noch Blumen. Ein Stock darüber, bei Frau Ernsthaft, sind sie längst verwelkt. „Ich kann mich nicht mehr so darum kümmern“, sagt die alte Frau Ernsthaft.

Frau Storandt sieht müde aus. Sie wirkt abgekämpft und verzweifelt und auch ein wenig verbissen. Sie wirkt verloren in ihrer großen Wohnung, vergessen in ihrem schwarzen Ledersessel, vor den vielen Büchern mit den vielen Lesezeichen drin. „Ich will nur noch hier weg“, sagt Frau Storandt. Dann erzählt sie von jenen Tagen im August, als sie dieses Haus „ganz bewußt aufschrecken wollte“. Und irgendwann sagt Frau Storandt, daß sie ziemlich allein ist. Freunde, viele Freunde habe sie früher gehabt. Und auch gute Nachbarn. Heute hat sie beides nicht mehr. Im Sommer hat Gisela Storandt eine handschriftliche Liste im Hausflur aufgehängt. 13 Namen waren darauf zu lesen: Hedwig Bachmann, Alfred Fürst, Karl Gotthelf, Sofie Guttmann, Ida Lewinsky, Emma Lewy, Marianne Lewy, Jaque Nahaum, Alfred Wachsmann, Jenny Wachsmann, Gerhard Winter, Else Winter, Rudolf Winter. Namen von jüdischen Bewohnern des Hauses Schwäbische Straße 3, Namen von Toten. Nach der Deportation durch die Nazis sind diese 13 wie insgesamt 6.069 Schöneberger Juden in Auschwitz, in Theresienstadt oder in Rußland umgekommen. „Und dieses Haus lebt einfach in seinem alten Trott weiter.“ Frau Horst sagt, sie habe kein Interesse an dem Thema. Bezahlen für eine Erinnerungstafel? „Nein. Sie müssen entschuldigen, ich habe jetzt keine Zeit.“

Nicht lange hing die Liste im Flur. „Sie wurde abgerissen, und ich habe sie wieder aufgehängt“, erzählt Gisela Storandt. Sie wurde wieder abgerissen, dann hat sie es aufgegeben und gesagt: „Die Leuten werden noch mal getötet.“ Dann hat sich Arvid Erlenmeyer, der Psychoanalytiker aus dem zweiten Stock, der Sache angenommen. „Ich habe vorgeschlagen, einen ,Stillen Portier‘ aufzuhängen, mit allen Namen und Daten darauf.“ Briefe gingen durchs Haus, aber nur wenige von der Hausgemeinschaft reagierten. „Letztlich waren wir 13 Sympathisanten.“ Morgen wird die Erinnerungstafel eingeweiht.

Arvid Erlenmeyer. Ein großer Mann mit grauen Haaren, schwarzem Schnauz, runder Brille. Er sei es von Berufs wegen gewohnt, ins Innere anderer vorzudringen. Er wird unsicher, wenn die Rollen getauscht werden. „Ja, ich bin ein Täterkind“, sagt Herr Erlenmeyer. Sein Vater war im Zweiten Weltkrieg in höherer Stellung bei der Luftwaffe. „Er war lange Zeit in Ungarn. Er muß dort die Judenverfolgung mitbekommen haben.“ Gesprochen habe er nie darüber, „er hat es immer abgewehrt, er war nicht einmal in der Lage, etwas zu bedauern“. Arvid Erlenmeyer brennt sich eine Zigarette an, läßt den kalten Rauch im Schweigen stehen. Er nimmt einen Schluck Tee aus der Schale und sagt eine lange Weile nichts. Dann: „Ja, diese Erinnerungstafel ist ein Stück Wiedergutmachung. Wir Kinder sind für die Elterngeneration verantwortlich.“ Weiter wolle er jetzt nicht darüber reden. Nur noch soviel: „Dem Grauenvollen muß begegnet werden.“ Einen schlichten „Stillen Portier“ im Haus anzubringen, das sei eine angemessene Lösung. Frau Okon sagt, sie wisse nichts von der ganzen Aktion. „Tut mir leid, ich kann Ihnen die Tür nicht aufmachen. Ich habe völlig verschmierte Hände.“

Am 12. September hat die alte Frau Ernsthaft auf das Rundschreiben von Herrn Erlenmeyer geantwortet. Sie werde sich an den Kosten für die Erinnerungstafel beteiligen, „wenngleich ich der Auffassung bin, daß das lediglich Sache der Nichtjuden ist“. Als einzige Jüdin aus der Schwäbischen Straße 3 hat sie die Nazizeit überlebt. „Der liebe Gott hat es wirklich gut mit mir gemeint.“

An ihrer Tür im dritten Stock hängt noch immer ein Schild mit den Initialen „H. Ernsthaft“. H wie Heinrich, H wie Harry. Heinrich, ihr Mann, ist am 21. April 1947 gestorben, Harry, ihr Sohn, am 28. Januar 1978. Das kleine Schild hat Frau Ernsthaft nicht abgenommen. Wie sie überhaupt von Erinnerungen lebt. In jedem Zimmer hängen Bilder ihrer Angehörigen. Heinrich im schmucken Anzug mit Zylinder, Stock und feinem Anzug; Harry als kleiner Junge; ihre Eltern Elsbeth und Jacques im trauten Zweisein. Ein kleines Bild steht auf der Kommode. Zu sehen sind zwei Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee. Zu lesen ist da: Elsbeth Doller, gestorben in Theresienstadt. Als Lilli Ernsthaft einmal im Fernsehen gesehen hat, wie Juden in Theresienstadt nackt oder im Nachthemd von einem Dach in einen Fluß springen mußten, da wußte sie, „so ist meine Mutter umgekommen“.

1922 hat Lilli Ernsthaft in dieses Haus, Schwäbische Straße 3, eingeheiratet. Ihr Mann, der Operrettensänger Heinrich Ernsthaft, war ein angesehener Künstler in der Stadt. „Er hat unter der Dirigentschaft von Johann Strauß gesungen.“ Sie wäre auch gern ans Theater gegangen. Die Mutter hatte was dagegen. Mädchen, habe sie gesagt, lerne was Anständiges. „Ja, so war das damals.“ Und wie war's im Haus? Viel verkehrt habe man nicht mit den Nachbarn. „Man hat sich gegrüßt, Guten Tag gesagt. Das war schon alles.“ Später habe man sechs jüdische Leute aufgenommen, ein Ehepaar mit Sohn, eine Mutter mit Tochter und einen älteren Herren. „Die mußten raus aus ihren Wohnungen.“ Was aus ihnen geworden ist? Sie weiß es nicht. „Es hat sich keiner wieder gemeldet.“ Die 13 Namen auf der Liste kenne sie nicht.

Lilli Ernsthaft hat überlebt, „mit Gottes Hilfe“. Als Goebbels 1942 die Anweisung gab, die 250 kränkesten Juden der Stadt nicht abzutransportieren, weil es sich nicht lohne, kam das Ehepaar ins jüdische Krankenhaus in der Iranischen Straße. „Mein Mann war sehr krank, und ich durfte bei ihm bleiben.“ Bis 1947, bis zum Tode ihres Mannes, hat sie in dem Krankenhaus gelebt. Ständig in der Angst, doch noch deportiert zu werden. „Alle acht Tage kam die Gestapo ins Krankenhaus. Da mußten sich die Juden in Reih und Glied aufstellen, und da wurden die aussortiert, die nach Polen kamen.“

Lilli Ernsthaft streckt plötzlich den Arm nach vorn, ballt die Hand zur Faust und spreizt den Zeigefinger. In zackigen Bewegungen zerschneidet sie die Luft, will sie zeigen, wie das damals war. „Du, und du, und du, und du! haben die Gestapo-Leute geschrien“, und ihr Arm schlägt stramm hoch und nieder. 1947 ist Lilli Ernsthaft heimgekehrt in ihre Wohnung in der Schwäbischen Straße 3. Gemeinsam mit „dem Harry, der hat auch Glück gehabt, der war versteckt“. Später sei er nach Amerika gegangen und an Leukämie gestorben. „Das war ein großer Verlust.“

94 Jahre ist Lilli Ernsthaft. Die Augen wollen nicht mehr so recht, die Ohren auch nicht. Raus kommt sie fast gar nicht mehr, „mit dem Gehen ist so schlecht geworden“. Ihre Wohnung, das sei ihr ein und alles, da sind die Erinnerungen, da ist fast alles noch genau so, wie es damals war. Das alte Sofa, der Sekretär, das Radio, dessen Skala noch von Breslau bis Magdeburg reicht, das kleine Anziehzimmer.

Herr Tieg fragt, ob denn so eine Tafel notwendig sei. Ob denn so was auch in anderen Privathäusern gemacht werde. Außerdem: „Ich habe keine Zeit, mich darum zu kümmern.“

Frau Storandt wird morgen, wenn der „Stille Portier“ aufgehängt wird, nicht dabeisein. „Der kommt an die Wand, und alle Leute lügen. Im Sommer, als sie die Liste abgerissen haben, da waren sie ehrlich.“