Die typisch deutsche Sucht der Rechthaberei

■ Rechtsschutzversicherte gelten unter Juristen als Hauptschuldige an der Prozeßflut. Doch bei Scheidungen und Rechtsproblemen am Bau hilft auch der Rechtsschutz nicht weiter

„Ein Prozeß ist immer auch ein riskantes Glücksspiel“, sagt Lothar Jünemann. Der Vorsitzende des Richterbundes vermutet daher: „Es läßt sich eher jemand darauf ein, der eine Rechtsschutzversicherung hat.“ In Deutschland ist das immerhin jeder zweite Haushalt.

Eine Studie der Universität Gießen bestätigt Jünemanns Vermutung. Ihr zufolge strebt in einem zivilen Rechtsstreit jeder zweite Versicherte einen Prozeß an. Bei den Nichtversicherten wagt das nur jeder dritte. Vor allem bei kleinen Verkehrsdelikten treten die Versicherten wesentlich beherzter vor den Richterstuhl: Hier liegt die Prozeßquote um ein Drittel höher als bei Nichtversicherten.

Doch die Untersuchung von 5.000 Gerichtsakten spricht die Versicherten vom Vorwurf frei, für die Überlastung der Gerichte verantwortlich zu sein. Der Anteil derjenigen, die bis zu einem Urteil durchhalten, sei nämlich nur knapp acht Prozent höher als bei den Nichtversicherten.

„Die Rechtsschutzversicherten tragen sicher dazu bei, daß es extrem viele Gerichtsverhandlungen gibt“, meint dagegen ein Anwalt. Sie seien eher bereit, einen Fall durchzufechten, auch wenn die Erfolgschancen schlecht seien. Man solle das aber nicht nur negativ sehen: „Heute sind viele Leute sensibel und mutig geworden. Sie lassen sich nicht mehr alles gefallen.“

Die „Hitliste der Streitfälle“ führen nach Auskunft der Versicherungsgesellschaft Allianz Arbeitsstreitigkeiten an. Es folgen Klagen auf Schadenersatz und Wohnungsprobleme. Einige Bereiche tauchen in dieser Statistik allerdings nicht auf. Rechtsschutzversicherte sind nämlich keineswegs „voll und ganz gesichert“, wie es ein Fernsehspot weismachen will. Wer sich zum Beispiel scheiden lassen will, bekommt von seiner Versicherung für den Prozeß keinen Pfennig. Denn Ehescheidungen sind nach Auskunft von Uwe Schmidt-Kasparek vom Verband der Schadenversicherer ein „mit Sicherheit eintretender Schadensfall“. Und um sich gegen solche Fälle abzusichern, müßte man horrende Beiträge zahlen.

Aus dem gleichen Grund müssen Häuslebauer Rechtsprobleme auf eigene Kosten durchfechten. „Beim Bauen kriegen Sie mit 100prozentiger Wahrscheinlichkeit irgendwo Ärger“, erklärt Schmidt-Kasparek. „Da wird eine Firma nicht termingerecht fertig, eine andere pfuscht herum, und eine dritte führt alles ganz anders aus als vereinbart.“

Diese Einschränkungen führen laut Schmidt-Kasparek dazu, daß ein seriöser Vertragsabschluß „sehr beratungsintensiv“ sei. Doch gebe es unter den Vertretern auch einige schwarze Schafe mit falschen Versprechungen. Die Folge: In diesem Jahr beschwerten sich 1.070 Versicherte beim Bundesamt für Versicherungswesen (BAV) in Berlin. Manche unzufriedene Versicherte geraten sogar in eine groteske Zwickmühle: Sie führen während eines laufenden Verfahrens zusätzlich einen Prozeß gegen die eigene Rechtsschutzversicherung.

Angesichts von vier Millionen laufenden Verfahren in Deutschland gibt sich Michael Benninghaus, Vorstandsmitglied des Versicherers Arag, hilflos: „Wir Rechtsschutzversicherungen können wenig gegen diese Prozeßflut tun.“ Man habe zwar versucht, Bagatellfälle auszuklammern und eine Selbstbeteiligung einzuführen. Doch bislang nur mit geringem Erfolg. Richter Jünemann resümiert: „Es bringt nichts, die Rechtsschutzversicherungen zu Sündenböcken für die Prozeßflut zu machen.“ Seiner Ansicht nach müsse man vor allem den psychologischen Gründen nachgehen: „Vor allem sicher der typisch deutschen Sucht, immer recht haben zu müssen.“ Christoph Schäfer