Reform als Einstieg in die Zwei-Klassen-Medizin?

Durch die neuen „Gestaltungsleistungen“ der Kassen und die Kürzung der Prävention verschlechtert sich die medizinische Versorgung  ■ Von Anke Nolte

Kindern mit Sprachentwicklungsverzögerungen bleibt die Sonderschule erspart. Schlaganfallpatienten, die zunächst kaum noch sprechen können, kehren wieder in ihren Beruf zurück – dank einer logopädischen, also sprachtherapeutischen Behandlung. Im Zuge der dritten Stufe der Gesundheitsreform soll die Logopädie nun aber nicht mehr zu den regulären Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen gehören. Auch Krankengymnastik und Ergotherapie sind als freiwillige, sogenannte „Gestaltungsleistungen“ der Krankenkassen vorgesehen (2. NOG, s. Kasten). „Ausweitung der Gestaltungsmöglichkeiten für die Selbstverwaltung der Krankenkassen“, nennt das die Regierungskoalition verharmlosend. Doch die Versorgung der Versicherten steht auf dem Spiel: Die Krankenkassen befürchten, diese Gestaltungsleistungen nicht mehr finanzieren zu können. Denn mit der dritten Stufe der „Reform“ ist den Kassen eine Anhebung der Beiträge erheblich erschwert worden (1. NOG): Eine Krankenkasse, die ihre Beiträge erhöht, muß gleichzeitig die Zuzahlungen zum Beispiel für Arzneimittel, Klinikaufenthalte oder Kuren anheben. Gleichzeitig erhalten die Versicherten das Recht, im Falle einer Beitragserhöhung die Krankenkasse sofort zu wechseln. Mit dieser Regelung will die Koalition verhindern, daß die Krankenkassen aufgrund ihrer Defizite (7,3 Milliarden Mark im 1. Halbjahr 1996) immer weiter an der „Beitragssatzschraube“ drehen.

Der Wettbewerb der Kassen, der mit der Kassenwahlfreiheit im Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 eröffnet wurde, soll verschärft werden. Doch die Kassen bemühen sich um eine gemeinsame Haltung: „Wir wollen verhindern, daß Leistungsunterschiede zwischen den Kassen entstehen und möchten nicht zum Kassen- Hopping zwingen“, sagt Udo Barske, Pressesprecher des AOK- Bundesverbandes. Wenn die Kassen die Gestaltungsleistungen tatsächlich streichen, bedeutet das einen Einstieg in die Zwei-Klassen- Medizin: Offensichtlich notwendige und effektive Therapien wie die Logopädie werden zu einer Luxusleistung, die sich nur die besserverdienenden Versicherten leisten können – ganz abgesehen davon, daß LogopädInnen, ErgotherapeutInnen und KrankengymnastInnen um ihre Existenz fürchten müssen. Genauso bedrohlich ist die Kürzung der Gesundheitsförderung, die als Auftrag der Krankenkassen erst mit der Gesundheitsreform von 1988 in das Sozialgesetzbuch (§ 20 Fünftes Buch, SGB V) aufgenommen wurde. Die Prävention wird nun auf Schutzimpfungen, Krebsvorsorge und Früherkennung in der Schwangerschaft zurechtgestutzt. Damit wird übersehen, daß Gesundheitsförderung – in der Hauptsache Bewegung, Ernährung, Entspannung und Suchtentwöhnung – kostenintensive chronische Krankheiten an der Wurzel packt.

Die „Deutsche Herz-Kreislauf- Präventionsstudie“ hat zum Beispiel ergeben, daß regelmäßige Bewegung Herz-Kreislauf-Erkrankungen um bis zu 20 Jahre verzögern kann. Die Nichtraucher- Kurse haben eine Erfolgsquote von 55 Prozent, errechnete die AOK. Damit spare die AOK rund 16 Millionen Mark pro Jahr an unnötigen Kosten, dem ein Aufwand von lediglich zwei Millionen Mark für die Kurse gegenübersteht.

Die Krankenkassen können zwar theoretisch diese Leistungen noch anbieten, müßten sie jedoch über einen Sonderbeitrag finanzieren, der ausschließlich zu Lasten der Versicherten geht (und nicht mehr zur Hälfte vom Arbeitgeber gezahlt wird, 2. NOG). „Nach der derzeitigen Gesetzeslage ist es unklar, ob wir im nächsten Jahr solche Kurse noch durchführen können“, meint Udo Barske von der AOK. Als Grund zur Einsparung im Präventionsbereich wird vom Gesundheitsministerium angegeben, daß die Krankenkassen „Marketing unter dem Deckmantel der Gesundheitsförderung“ betreiben. Dabei bezieht man sich auf die vielfach zitierten Bauchtanz- oder Indoor-Climbing-Kurse. „Diese Werbemaßnahmen machten nur ein Prozent der Präventionsangebote aus“, betont hingegen Wolfgang Arndt, Beauftragter für Gesundheitsförderung der Ärztekammer Berlin. Anscheinend wird hier das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Wieso werden nicht andere Sparpotentiale in Angriff genommen, wie beispielsweise die Anhebung der Pflichtversicherungsgrenze für die Privatversicherung von 6.000 auf 8.000 Mark? Dieser Vorschlag der Bündnisgrünen würde, laut der Bundestagsabgeordneten Monika Knoche, einen Einnahmezuwachs von zehn Milliarden DM entsprechen. „Das Gesundheitswesen“, so Knoche, „hat selbst bei der Massenarbeitslosigkeit so viele Reformmöglichkeiten, daß überhaupt nicht an Leistungsbegrenzungen und Zuzahlungen gedacht werden müßte.“