Abheben ins Nirwana

Schwergewichtsboxer Boris Becker sorgt bei der ATP-WM für Verzückung unterm Seehundschnauzer  ■ Von Matti Lieske

Hannover (taz) – Die Elogen wollten schier kein Ende nehmen nach dem in der Tat beeindruckenden Match zwischen Boris Becker und Pete Sampras bei der ATP- Weltmeisterschaft in Hannover. „Ich hätte am liebsten abgehoben und wäre ins Nirwana geflogen“, beschrieb Becker den Augenblick, als er den Weg durch die brodelnde Menge hinunter zu seinem Arbeitsplatz antrat. Als dann noch die Musik aus dem Film „Rocky“ erklang – „eine der Lieblingsmusiken“ des 29jährigen, wie er unvorsichtigerweise verriet –, hätte er am liebsten „ein paar Boxbewegungen“ gemacht. Auch Pete Sampras, der als Verlierer vom Platz ging und es langsam satt hat, „in Deutschland gegen Boris zu spielen“, fiel der Vergleich von zwei großen Boxern ein, „die aufeinander losgehen“, und der „unumstrittene Schwergewichtsweltmeister“ (Becker) aus den USA mußte angesichts der 15.000 Boris-Claqueure leicht widerwillig einräumen: „Die Elektrizität, die Atmosphäre, das war hinreißend.“

„Ich erkläre die ATP-WM für eröffnet“, hatte Gerhard Schröder, ganz Staatsoberhaupt, am Dienstag verkündet und die Hannoveraner aufgerufen, doch bitte das „beste Tennispublikum der Welt“ abzugeben. Die als reserviert beleumundeten Norddeutschen geben sich seither alle Mühe, dem Gebot des Landesvaters zu folgen, auch wenn die verzückten „Boris“-Rufe in der Messehalle 2 fast ausschließlich schrillen Kinderkehlen entstammen, die sich unaufhörlich akustische Bahn brechen. Anders als im Davis-Cup aber bleiben die Leute bei aller Becker-Euphorie immer fair, wie auch Pete Sampras nach dem 6:7 (10:12), 6:7 (4:7) in einem mit glanzvollen Schlägen gespickten Match zugab, dennoch mache es „ganz sicher keinen Spaß“, in diesem Rahmen gegen den Deutschen anzutreten. „Es ist überall hart, gegen ihn zu spielen“, sagte der Weltranglistenerste, „aber hier ist es besonders hart.“

Angesichts dieses Standortvorteils könnte man natürlich fragen, ob es gerecht ist, die ATP-WM so viele Jahre hindurch in Deutschland zu veranstalten, und Thomas Muster zögert keine Sekunde, dies auch zu tun. „Das Masters ist total auf Boris zugeschnitten“, rügt der Österreicher, „das ist den anderen Spielern gegenüber nicht fair.“ Dabei gäbe es doch noch viele schöne Städte, meint Muster, und es verwundert kaum, daß ihm neben Paris, London oder New York zuallererst Wien einfällt.

Zunächst einmal ist aber nach sechs Jahren Frankfurt bis 1999 Hannover Austragungsort, die Stadt, die der ahnungslosen Welt zu gern mitteilen möchte, daß hier im Jahr 2000 die Expo stattfindet. Im Moment sieht es so aus, als ob „der Umzug von einer grauen, wenig reizvollen deutschen Stadt in eine andere“ (International Herald Tribune) gelungen ist. Der Drahtzieher des Wechsels und Veranstalter des Turniers, Ion Tiriac, sieht jedenfalls so zufrieden aus, wie ein mürrischer Mensch unter einem Seehundschnauzer überhaupt aussehen kann. Auch ihm dürfte jedoch klar sein, daß der Erfolg weder durch sein VIP-Village noch durch die Freßmeile in Messehalle 3 oder den lauten, aber meist leeren Fun'n Fitneß-Park in Halle 4 gewährleistet wird, sondern an „einer rothaarigen, rotbärtigen Variablen mit schmerzendem Handgelenk“ (International Herald Tribune) hängt.

Da sich aber Boris Becker nicht nur in beeindruckender Weise für das Turnier der besten acht qualifiziert hat, sondern trotz der gestrigen Niederlage gegen Ersatzmann Thomas Enqvist sich für das heutige Halbfinale qualifizierte und so beste Aussichten bestehen, daß weitere emotionale Höhepunkte verursacht werden, kann Hannovers erste Etappe auf dem Weg zur Tennis-Metropole getrost als triumphal betrachtet werden. Und da Sampras am Freitag gegen Jewgeni Kafelnikow gewann und ebenfalls im Halbfinale steht, wäre im Finale sogar eine Neuauflage möglich. Unter diesen Umständen dürfte es sich Juan Antonio Schröder, wenn er am Sonntag, wie zu befürchten, das Turnier für geschlossen erklärt, kaum nehmen lassen, von der „besten ATP-WM aller Zeiten“ zu sprechen. Atlantas Billy Payne wird neidvoll erblassen.