Frau Hiller

Als Transvestit in der DDR  ■ Von Gabriele Goettle

„Also, wo waren wir stehengeblieben?“ fragt Frau Hiller und schon ist es ihr wieder eingefallen: „'45 war'n wir stehengeblieben. Ich bin zurückgekommen zu Frau und Kind, der Krieg war zu Ende, mein Haus stand, und ich habe wieder eine Arbeit bei Siemens bekommen, im Signalbau. Und nun war es so, daß ich ja immer noch einen Sohn wollte, da gingen wir damals nach Oranienburg raus, um ein Kind zu adoptieren. Meine Tochter war mitgekommen, und die hat sich ein Mädel ausgesucht. Die Hannelore! Sie haßt mich heute noch, wegen der Kleider, dabei ist es mir ja sogar von den Ärzten empfohlen worden, das Kleidertragen. Man hat mich ja untersucht damals, in der Magnus-Hirschfeld- Gesellschaft. Die war oben an der Warschauer Straße, bei der Brücke war sie, da bin ich immer hingefahren. Dort hat man mich dann auch aufgeklärt, über das, was mit mir ist. Die sagten mir: ,Hiller, wenn es so mit Ihnen steht, dann müssen Sie Kleider tragen, dagegen können Sie gar nichts machen.‘ Ich war natürlich froh und erleichtert, aber vorsichtshalber war ich auch noch bei anderen Ärzten im Westendkrankenhaus, dort sagte man dasselbe. Als dann die Grenze kam, da konnte ich nicht mehr so rüber in den Westen, mein Haus lag ja im Osten. Gearbeitet habe ich dann in Hennigsdorf, beim VEB Lokomotive Elektrotechnische Werke Hans Beimler – seh'n Sie, so steht's da in meinem Arbeitsbuch –, auch dann als Rentner habe ich noch einige Zeit dort weitergearbeitet. Als Fräser habe ich da gearbeitet, und anfangs bin ich zur Arbeit angetreten als ganz normaler Arbeiter. Das ging ein Vierteljahr so, von da an hab' ich Kleider getragen. Es war 1953, wie ich nach Hennigsdorf kam. Da war ich 51 Jahre. Angefangen hatte es eigentlich so: Da war mal ein Maskenball gewesen in der Firma, und ich bin erschienen als Dame, habe mein schönstes Kleid angezogen, war zurechtgemacht, alles, so daß mich erst mal keiner erkannt hatte. Dort habe ich mich mit einer Frau unterhalten, die war mir unbekannt. Und der habe ich mich anvertraut, also ihr erzählt, daß ich heimlich Kleider trage und nun erstmals öffentlich, und sie war ganz überrascht und sagte: ,Gehen Sie doch mal zum Arzt, der kann vielleicht helfen, daß Sie das loswerden.‘ Also loswerden wollte ich ja gar nichts. Trotzdem bin ich noch mal zum Arzt, der hat mich zuerst mal in die Charité geschickt. Da kam ich zu den ganz Irren, zu den Männern hat man mich gesteckt. Sie haben mich untersucht dort, mir Gehirnwasser entzogen – furchtbar war das, ich hatte Schmerzen, und niemals hätte ich zugestimmt, wenn die mir das vorher gesagt hätten – sie haben mich also hin- und hergedreht, ich sagte auch, was die von der Magnus- Hirschfeld-Gesellschaft gesagt hatten, aber davon wollte man gar nichts hören. Am Ende haben sie dann rausgekriegt, was schon zu Anfang bekannt war, daß ich ein Transvestit bin und vollkommen harmlos. Der Arzt hat meine Frau zu sich bestellt und versucht, ihr die Sache zu erklären, daß ich die Kleider tragen muß, für meinen Seelenfrieden, denn sonst gehe ich zugrunde. Und auch mit unserem Generaldirektor vom Werk haben sie gesprochen. Das war ein medizinisch vorgebildeter Mann, der hatte schon gehört davon und wußte einiges über Transvestiten. Der hat dann alles mit dem Chef durchgesprochen, und es wurde beschlossen, daß ich dableiben kann und weiterarbeiten. Als Maschinenarbeiter im Lokomotivbau. Und zwar in Kleidern! Ich hatte ja gut gearbeitet und immer alles in Ordnung gehabt, trotzdem, damit hatte ich nicht gerechnet. Also, ich hatte mir ein Kleid vom Schneider machen lassen, ein rotes Kleid. Auch eine Perücke habe ich mir machen lassen, aus echten Haaren, sie war ganz schön teuer gewesen, die Haare waren mittellang und blond. Ich hatte ja auch blonde Haare... Seh'n Se, die Reste von meinen sind jetzt weiß!“ Frau Hiller reißt sich mit einem Ruck ihre Perücke herunter, richtet das wenige schweißfeuchte weiße Haar auf, damit wir es besser sehen können und streift sich die Perücke dann wieder über den Kopf. Etwas nachlässig und etwas zu tief in die Stirn gerückt, so daß ihr Gesicht einen verwegenen Ausdruck bekommt: „Also ich weiß noch genau“, fährt sie fort, „es war Sommer. Ich ging aus dem Haus, mit allem, was ich für die Arbeit brauchte, und ich hatte dieses rote Kleid an, meine schönen Haare. Morgens um fünf ging ich so durchs Werktor. Es hatte sich natürlich schon einiges herumgesprochen. An sich war ich richtiggehend glücklich, aber das Herz, das klopfte mir bis zum Hals. Und dann waren schon die ersten Reaktionen, ein paar haben mich angespuckt, beschimpft, mit Wörtern belegt, ausgelacht, manche waren völlig baff, daß so was überhaupt möglich und erlaubt sein soll! Dann gab's einen richtiggehenden Auflauf. Über hundert umringten mich, und es wurden immer mehr – das ist ja ein großes Werk, über 20.000 waren da, aber insgesamt, also nicht in unserer Halle – und dann hat der Chef vor den Arbeitern gesprochen, hat sie beruhigt und gesagt: ,So was gibt's auch, liebe Leute! Die Werksleitung hat beschlossen, daß wir in diesem Fall eine Ausnahme machen, also benehmt euch und laßt mir den Hiller in Ruhe, zeigt euch von eurer großzügigen Seite...‘ und so weiter. Einige haben hinterher dann auf den Generaldirektor und den Chef geschimpft, daß die so was erlauben, und da könnte ja jeder daherkommen... Aber wo das nun sozusagen offiziell war, hat sich die Aufregung bald gelegt – natürlich sind da immer welche, die nicht aufhören können und sticheln und bohren. Das wurde mit der Zeit ganz normal, daß ich in Kleidern ging. Die hatten mir in Hennigsdorf sogar eine eigene Umkleidekabine eingerichtet, mit Spind. Zu den Frauen durfte ich ja nicht, und zu den Männern wollte man mich auch nicht stecken. Das war so 'ne kleine Kammer, das Wasser mußte ich mir zwar holen, aber da hatte ich meine Ruhe und konnte meine Kleider und Sachen hinhängen. Ja, und tags, da stand ich in der Maschinenhalle, an meiner Maschine – jeder hatte seine Maschine – ich trug keine Hosen, sondern einen Arbeitskittel wie die Frauen. Darunter quasi meine Wäsche: Büstenhalter, Hüfthalter, Unterrock, Höschen, Strümpfe, ja und drüber den blauen Kittel, und aus Sicherheitsgründen mußten Frauen immer eine Mütze tragen, wegen der Haare. Eine Frau war mal mit ihrem Haar in die Bohrmaschine geraten, und es hat ihr die halbe Kopfhaut mitabgerissen, seitdem war Mützentragen für Frauen Vorschrift, egal wie lang die Haare waren. Ich wurde gerufen als Walli, und man fragte mich mal, ob ich nicht meinen Namen ändern lassen will, richtiggehend, da habe ich gesagt: ,Wenn ich als Walli arbeite, dann kriege ich nur den niedrigeren Lohn für Frauen. Ich bin immer noch der Walter Hiller und will meinen vollen Lohn ausbezahlt haben!‘“ Frau Hiller lacht altmännerhaft und schiebt sich die Perücke etwas aus der Stirn. „Also im Werk bin ich dann ganz gut zurechtgekommen mit allem, aber draußen am Bahnhof, da haben sie mich beschimpft, einmal haben sie mich bespritzt mit solchen Flaschen, wo's drin sprudelt, die haben sie geschüttelt und auf mich gehalten, sie haben gelacht und mich verspottet. Ich bin dann zur Volkspolizei gegangen, und dort waren sie erst mal ratlos, mußten sich erkundigen, dann haben sie gesagt: ,Ja, wir werden Ihnen helfen.‘ Am nächsten Tag waren sie dann da und haben mir geholfen. Die mußten gar nichts sagen, sie haben sich einfach nur hingestellt. Und vielleicht dachten die Leute, wenn sie den nicht verhaften mit seinen Kleidern, dann darf der das wohl, und nach zwei, drei Tagen haben sie Ruhe gegeben. Sie richten sich immer nach der Obrigkeit, die Leute. Aber warum die Obrigkeit mir geholfen hat, das weiß ich bis heute nicht. Wie der Polizeihauptmann von Nauen davon gehört hat, daß ich in Kleidern

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gehe, da sagte er zu seinem Bezirkspolizisten immer: ,Sagen Sie doch dem Hiller mal, daß er zu mir kommen soll!‘ Ich bin dann eines Tages hingegangen. Vor seinem Büro, da saß seine Sekretärin an ihrem Schreibtisch und sagte, als sie hörte, wer ich bin: ,Wirklich, als Mann kann ich Sie mir überhaupt nicht vorstellen!‘ Das hat mich gefreut. Der Polizeihauptmann stellte mir viele Fragen. Wie, wann, wo. Dann sagte er: ,Ich weiß über Sie Bescheid. Sie haben Glück, mit Transvestiten sind noch nie Beanstandungen vorgekommen, und wenn Sie sich sonst nichts zuschulden kommen lassen, dann wollen wir ein Auge zudrücken. Wenn es irgendwelche Probleme gibt, dann wenden Sie sich an mich.‘ Ich sagte Danke und daß mir schon die Volkspolizisten einen Beistand leisten und auch die Werkspolizei. Dann war ich wieder entlassen. Es war ja alles soweit gut, nur zu Hause war es sehr schwierig. Meine Frau hat das nicht verstanden, und die Tochter, das Dorchen, war ja schon achtzehn, so was, und der war das auch peinlich. Und meine Frau eben, obwohl sie es ja von der Charité erklärt bekommen hatte, die wollte davon nichts wissen. Es gab ein richtiges Zerwürfnis, sie wollte weg von mir und sagte: ,Ich wollte einen Mann haben und keine Frau!‘ und ich antwortete: ,Du hast ja deinen Mann, ich bin derselbe wie immer. Innerlich habe ich schon immer so empfunden. Jetzt hast du eben beides.‘ Trotzdem, sie wollte zu ihrer Mutter zurück. Ich war natürlich darüber traurig, aber ich konnte die Kleider nicht mehr ausziehen, sonst wäre ich zugrunde gegangen, und deshalb sagte ich ihr: ,Ich muß so weitermachen. Aber wenn du dabei zugrunde gehst, das nicht aushalten kannst mit mir, dann mußt du zu deiner Mutter gehen. Und wenn du zu deiner Mutter gehst, dann bleibe nicht zu lange, daß wir uns nicht entfremden am Ende.‘ Da hat sie geweint und sagte: ,Ich werde dann doch hierbleiben.‘ Dann ist sie zu einer Nachbarin gegangen und hat sich mit ihr unterhalten, von Frau zu Frau, und um Rat gebeten. Die Nachbarin hat gefragt: ,Ja, wie ist er denn zu Ihnen, Ihr Mann, isser schlecht zu Ihnen, versäuft er das Geld, schlägt er Sie und die Kinder?‘ Meine Frau sagte: ,Nein! Mein Mann ist gut zu mir, sehr gut sogar, er trinkt nicht, und unser Dorchen hat er nur einmal geschlagen, und das hat ihm selber mehr weh getan als ihr, nein, er behandelt mich sehr gut, bringt das Geld nach Hause und ist freundlich.‘ Darauf hat dann die Nachbarin geraten: ,Wenn das so ist, wenn Ihr Mann gut zu Ihnen ist, dann bleiben Sie bei ihm. Was denken Sie, was bei mir gewesen ist, und ich bin auch geblieben. Andere werden geschlagen und betrogen und bleiben trotzdem!‘ Meine Frau hat den Ratschlag befolgt und ist bei mir geblieben, aber das Zusammenleben war oft sehr schwierig, also besonders das eheliche Zusammenleben... denn der Sex, der war geblieben zwischen uns, das wurde aber immer weniger und weniger. Das ging von ihr aus, und ich wollte sie auch nicht bedrängen, aber manchmal habe ich gefragt: ,Suse, wie isses, willst du wieder? Soll ich wieder?‘ Und dann hat sie gesagt: ,Gut, wenn du willst. Ich tu's.‘ Sie wollte mich ja auch nicht zurückstoßen. Also, daß ich in Frauenkleidern zu ihr kam, das hat meine Frau dann auch... äh... angenommen. Das mußte ich ja, aber ich will mal so sagen, jeder hat ein bißchen nachgegeben. Nur die erotische Anziehungskraft war leider ziemlich gestört, durch die weiblichen Sachen; also von ihrer Seite aus. Aber ansonsten stand sie hundertprozentig zu mir. Sie hat mich hundertprozentig geliebt! Wir haben gut zusammengelebt, nachher, als sie sich daran gewöhnt hatte. Wir haben vieles gemeinsam gelernt, beim Bilden und Gestalten, künstlerisch und im Garten, wir hatten das Haus. Da haben wir immer am Tisch gesessen, ich glaube, das war ein runder Tisch – nee – ach, ist egal: Es war ein Tisch! An dem haben wir gesessen, ich hier und sie dort, sie hat gestrickt, gehäkelt und genäht, mal 'ne Hose, mal 'nen Mantel. Sie konnte schöne Frauenmäntel nähen. Und ich habe für sie immer die Motive für ihre Strickarbeiten aufgezeichnet. Immer neue Muster und Blumen habe ich mir ausgedacht, und sie hat's gestickt. Nachher lag die Decke auf dem Tisch, und das war jedesmal eine richtige Freude. Ich war ja mit meinen Arbeitshänden viel zu ungeschickt für so was. Handarbeiten und all das hat nur meine Frau gemacht, auch den Haushalt, Wäsche waschen, Putzen, Staubwischen, das hat alles meine Frau gemacht, aber ich habe ihr das Kochen beigebracht, ich war ja Koch von Beruf, und dann habe ich mit acht verschiedenen Farben gearbeitet, Stoffdrucke, Stoffmalerei gemacht, auch Linolschnitt, Bauernmalerei und ölgemalte Bilder. Hier draußen haben Sie das Bid wohl gesehen, das Meerbild, das ist aus dieser Zeit. Und dann natürlich meine Pflanzen, die kosteten auch viel Zeit. Ich habe viele verschiedene Sachen gemacht. Seit ich in Kleidern ging, hat das angefangen, das Künstlerische. Der Druck und alles ist von mir abgefallen, und ich war plötzlich so frei und konnte Sachen, von denen ich gar nicht wußte, daß ich sie kann. Das ganze Bilden und Gestalten. Das Gefühl eine Frau zu sein, das hat sich durch das Tragen der Kleider eingestellt, ich wußte, tief innen bin ich eine Frau, und von außen bin ich es mehr und mehr geworden, Bartwuchs hatte ich nie viel, wer mich nicht gekannt hat, der hat gar nichts gemerkt. Wissen Sie übrigens, daß die Frauen in der Rheumagruppe, mit denen ich jede Woche zusammen bin, seit Jahren schon, daß die nie gemerkt haben, daß ich ein Mann bin? Keine einzige hat jemals Verdacht geschöpft! Aber Ihnen, Wolfgang, habe ich es anvertraut, ich habe Vertrauen zu Ihnen. Auch zu den Frauen eigentlich, aber ich weiß eben nicht, wie sie so etwas aufnehmen. Ich bin ja sanftmütig, kann mich jedem anpassen, alles das, was der andere mir sagt, das mache ich, ja, ja. Aber anders kann ich auch! Das habe ich ja bewiesen. Ich wollte mich eine Weile lang operieren lassen, also umoperieren zur Frau. Ich hatte von einem Amerikaner gelesen, der war zuvor Flieger im Krieg, und der hat sich in Dänemark umoperieren lassen. Dafür mußte er 20.000 Mark bezahlen, und nachher fühlte er sich überglücklich als Frau. Das wollte ich auch. Aber ich hatte mich überall erkundigt, in der DDR haben sie solche Operationen nicht gemacht, das wurde aus moralischen Gründen abgelehnt. Im Westen drüben hat man ja nachher die Operationen auch gemacht, aber für 50.000 Mark, und die Krankenkasse hätte wohl so 8.000 Mark dazugegeben. Das war Ende der siebziger Jahre, da war ich bereits hier im Westen, wohnte ganz in der Nähe, ja, damals hätte ich es machen können, aber man sagte mir: ,Sie sind schon zu alt.‘ Ich habe ja dann Verschiedentliches im Fernsehen gesehen. Manche haben sich operieren lassen, die sich hinterher überflüssig gefühlt haben. Heute sage ich mir, es ist ganz gut, daß es in der DDR solche Operationen nicht gegeben hat, sonst hätte ich sie bestimmt gemacht. Und damit hätte ich meine Frau verloren, die wäre sofort weggegangen! Die meisten Transvestiten, die sich operieren lassen, die fühlen sich zu Männern hingezogen... Ja, also, zu den Männern will ich nicht, wollte ich nie! Wenn ich zu den Männern wollte, dann wäre ich ja schwul!“ Frau Hiller legt echte Empörung an den Tag. „Nein, ich bin nicht schwul, also, wie soll ich's sagen... Ich stehe immer nur auf der Seite der Frauen, ich unterstütze die Frauen... lesbisch könnte man sagen, ja, eben so, von Frau zu Frau, das ist mein innerstes Gefühl, und deshalb wollte ich mich ja auch operieren lassen, aber meine Frau, wie gesagt, die hätte das nicht mitgemacht. So bin ich eben rein anatomisch gesehen ein Mann geblieben und habe meine Frau behalten. Trotz allem, wir beide – wie die Kletten haben wir aneinander gehangen. Und damals, als meine Frau krank wurde, da habe ich... da habe ich fast alles alleine gemacht, den ganzen Haushalt... da habe ich vieles“, Frau Hiller scheint irgendwie über dieses Thema nicht sprechen zu wollen und ruft plötzlich heftig: „Vorsicht, da ist 'ne Biene, wedeln Sie die mit dem Papier da mal raus!“ Ich nutze die Unterbrechung des Redeflusses, um eine Frage zu stellen, ich frage, wann und woran die Frau gestorben sei, und löse enorme Verwirrung damit aus. Frau Hiller sagt nach einer langen Pause, in der sie ihr Taschentuch vor den Mund hielt: „Ja... ich weiß nicht recht. Oben auf dem Stein steht es drauf, auf dem Grabstein – da ist mein Name auch schon drauf mit Geburtsdatum, mein Sterbedatum ist offen, das von meiner Frau steht drauf, aber in meinem Kopf ist es nicht drin. Vielleicht weiß meine Tochter das Datum und die genaue Todesursache... Oder warten Sie mal, ich habe da verschiedene Papiere in der Mappe, da muß auch der Brief von ihr dabei sein...“ Frau Hiller blättert fahrig in den Papieren und spricht zerstreut weiter: „Das kann ich schon mal sagen, meine Frau ist hier gestorben, hier im Westen, das hat alles ein Verwandter von uns veranlaßt, ein chirurgischer Arzt. Als er sie sah, hat er geschimpft auf die Ärzte im Osten: ,Was ist mit euch drüben los? Die muß ja erst mal aufgefüttert werden, die ist ja schon viel zu schwach. Viel zu mager!‘ Ja, die Maschinen waren immer kaputt, sie konnten meine Frau nicht untersuchen und nichts. Dann hat der Verwandte sie operiert, danach war meine Tochter bei ihr zu Besuch, sie haben sich sogar unterhalten, und in der Nacht darauf war sie tot. Das Herz. Hier, hier muß es irgendwo stehen... also, was steht da? Olgas letzter Brief, nein, das isses nicht... ah, hier, das ist von Dorchen: ,Lieber Papa, Danke für Deinen lieben Brief‘, nein, das ist es auch nicht, also ich sage mal, es war an einem Freitag, 1970, ja, ich bin ziemlich sicher! Ah, hier habe ich noch so Verschiedenes drinnen.“ Frau Hiller murmelt und kramt. „Wissen Sie, damals, als meine Frau krank war, da habe ich auch in das Pflanzenbuch gemalt, das Sie voriges Mal angeschaut haben, erinnern Sie sich? Hier ist meine polizeiliche Anmeldung im Westen damals, 1. 12. 77. Und ein Vierteljahr war ich ja im Rot- Kreuz-Heim. Im Übergangslager Marienfelde, und erst dann bin ich hier raus gezogen. Meine Tochter wohnte schon 25 Jahre hier in ihrem Haus, die ist ja damals aus der DDR getürmt, und er, der Mann, der war schon hier. Nee, in diesem Kuvert steckt es auch nicht... verstorben, verstorben... Aha!! Hier hab' ich was... was anderes, das ist meine Wallfahrtsurkunde: Für Walter Hiller, steht da: ,Ist hinaufgezogen gen Jerusalem – die Heilige Stadt, Hauptstadt Israels – hat damit die biblische Weisung befolgt und wurde so ein Jerusalem- Wallfahrer.‘ Und das ist gewesen wann? Ha, steht kein Datum drunter, so was! Aber seh'n Sie, es ist eigenhändig unterzeichnet von Teddy Kollek. Na, ich laß es jetzt, denn seh'n Sie, ich habe schon mein ganzes Leben fast vor Ihnen ausgebreitet und wirklich, ich habe mich an Dinge erinnert, die ich mittlerweile schon vergessen hatte. Das ist alles ja schon so lange her. Und nun sitze ich hier, habe diese Kleider an und bin 98 Jahre alt. Vier Jahre muß ich noch durchhalten, dann habe ich in zwei Jahrtausenden und drei Jahrhunderten gelebt – lassen wir es dabei.“