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: Passive und aktive Solidarität

Von passiver Solidarität spricht man im Zusammenhang mit einer Versicherung. Deren Prämien berechnen sich in aller Regel nach dem statistischen Risiko. Beispiel Berliner Gaststätten: Sie melden nur selten Schäden (durch Feuer, Wasser, Einbruch/ Diebstahl etc.) an – und dementsprechend niedrig sind ihre Versicherungssätze. Würden mehr Pleitewirte sich riskant – zum Beispiel „heiß“ (über die Prämie) – sanieren, anstatt wie meist durch Verkauf von Konzession, Einrichtung und Brauereivertrag aufzugeben, erhöhte sich dadurch die Prämie für alle anderen (überlebenden Wirte).

Das mögliche wirtschaftliche Miteinbeziehen der Prämie ist in der Versicherungswissenschaft eine nachträgliche Risikoerhöhung, die man als moral-hazard- Problem bezeichnet. Für dessen (mathematischen) Lösungsansatz erhielt der Wirtschaftsforscher Vickrey William jüngst den Nobelpreis. Drei Tage nach Preisempfang starb er seltsamerweise. Das moral-hazard-Problem macht sich weniger bei den Heimatersatz anbietenden Wirten als bei den zunehmend ins Ausland driftenden Reisegepäckversicherungsnehmern – in der Statistik der Versicherungsunternehmen – unangenehm bemerkbar: Die fingierten „Katastrophen“ erreichen bereits 70 Prozent der Schadensfälle.

Die meisten Versicherungsfirmen gehen schon gar nicht mehr das Risiko ein und haben sie ganz aus ihrem Angebot genommen. In der taz annoncierte immer „Friedel's Fairsicherung“. So, wie mich zunächst der Begriff der (passiven) Solidarität im Zusammenhang mit dem Versicherungsgewerbes störte, habe ich mich auch über dieses alternativ- harmlose Kreativ-Wortspiel aus „Fairneß“ und „Versicherung“ geärgert. Ungefähr so: Solidarischsein heißt, daß man sich im Alltag hilft, mindestens bei einer Katastrophe. Eine „Katastrophe“ bedeutet ethymologisch soviel wie eine Umkehrung des Sterns. Sich davor mit einer Versicherung zu schützen, das kann doch nur in einen dem Hamsterrad ähnlichen Teufelskreis münden. Denn der dafür monatlich rübergereichte Scheck muß ja zuvor erst einmal verdient werden, wobei immer mehr verdient werden muß, weil mit zunehmender Unsicherheit, hervorgerufen durch Zerstörung von Freundschaftsbeziehungen zugunsten von Geschäftskontakten, die Versicherungsprämien anziehen... usw.

Außerdem ist man als Linker sowieso nicht davor geschützt, die quasi massenhafte Umkehr von Sternen, verstanden als Ausbruch aus festgefügten Lebensbahnen, sogar noch zu begrüßen. Weswegen man dann auch eher den Reisegepäckversicherungsbetrügern als beispielsweise den Friedelschen Fairsicherungen zugeneigt ist, was sich erst mit den ersten wirklich teuren Zahnarztrechnungen, der darauffolgenden Verabschiedung des Künstlersozialversicherungsgesetzes und den daran sich wiederum anschließenden rot-grünen Regierungen langsam legte.

Seit der Wiedervereinigung erstarkt hier nun erneut optimistisch-rebellisches Beharren im Unterversichertbleiben – zumindest gegenüber netten, aber penentrant sich überversichernden, gar auf Rechtsschutz bauenden Ostlern: „Es wird schon nicht so schlimm werden!“ Man ist geneigt, anzunehmen: Mit den Versicherungspaketlösungen sollen erst einmal nur verlorene Staatssicherheit und -solidarität ersetzt werden. Die bereits seit Anfang der achtziger Jahre von der „Risikogesellschaft“ sturzbetroffenen Westler folgen sowieso weniger dem Ruf nach (nationaler) Arbeitsplatzsicherung als dem Zeichen der Zeit: „Macht euch doch selbständig!“ Das führte aber in existentieller Konsequenz eben zu friedelähnlichen „Fairsicherungen“, sowie von „Action“ zu „Streß“ – und höchstens zu „kleinen Fluchten“, wo man konseqent gegen jede Minderung von Urlaubsfreuden versichert ist – wenn's hochkommt! Helmut Höge

wird fortgesetzt